Auch Jahre nach Abschluss einer Lebensversicherung oder Basisrente (Rürup-Rente) kann die Rückabwicklung des Vertrags möglich sein. Aktuelle Urteile des Bundesgerichtshofs (BGH) und mehrerer Oberlandesgerichte zeigen, dass dieses „ewige“ Widerrufsrecht weiterhin relevant ist. Finanzberater sollten die rechtlichen Grundlagen und neuesten Entwicklungen kennen, um Kunden neutral über Chancen und Voraussetzungen einer Vertragsauflösung aufklären zu können, erklärt Rechtsanwalt Christian Schneider von der Dr. Hartung Rechtsanwaltsgesellschaft.
Verträge der klassischen Lebens- oder Rentenversicherung, die zwischen 1994 und 2007 abgeschlossen wurden, leiden häufig unter fehlerhaften Widerrufs- beziehungsweise Widerspruchsbelehrungen. Der Grund liegt im früher üblichen Policenmodell: Kunden erhielten sämtliche Unterlagen und Verbraucherinformationen erst mit der Policen-Zusendung nach Vertragsabschluss. Wurden sie dabei nicht ordnungsgemäß über ihr Widerrufs- beziehungsweise Widerspruchsrecht informiert, begann die Frist nie zu laufen. Die Folge ist ein potentiell unbegrenztes („ewiges“) Widerspruchsrecht: Die Kunden können den Vertrag noch Jahre später widerrufen (beziehungsweise bei Alt-Verträgen widersprechen) und eine Rückabwicklung verlangen.
Für Verbraucher ist dies finanziell oft attraktiv. Bei erfolgreicher Rückabwicklung erhält der Versicherungsnehmer alle eingezahlten Prämien plus Zinsen zurück – meist deutlich mehr als den regulären Rückkaufswert. Zudem dürfen Versicherer wichtige Kostenpositionen nicht einbehalten: Abschluss- und Vertriebsgebühren sind vollständig zu erstatten, und bereits ausgezahlte Beträge sowie Risikoprämien werden angerechnet. BGH-Grundsatzurteile aus den Jahren 2014 und 2015 haben dieses fortbestehende Widerrufsrecht bestätigt. Infolgedessen entwickelte sich der sogenannte Widerrufsjoker für ungewollte oder unrentable Lebensversicherungen.
Aktuelle Urteile schaffen Klarheit
Allerdings war lange unklar, ob auch steuergeförderte Altersvorsorgeprodukte wie die Basisrente (Rürup-Rente) unter diese Rechtsprechung fallen. Diese Verträge wurden erst ab 2005 angeboten und galten als praktisch unkündbar – eine vorzeitige Auszahlung ist vertraglich ausgeschlossen. Umso bedeutender sind die jüngsten Urteile, die nun Klarheit schaffen. In zwei aktuellen Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof den Widerruf von Rürup-Rentenversicherungen ausdrücklich zugelassen. Konkret ging es um BGH-Urteile vom 11. Oktober 2023 (Az. IV ZR 41/22) und 24. Januar 2024 (Az. IV ZR 306/22). Darin stellten die Karlsruher Richter klar, dass Verbraucher auch Basisrenten-Verträge nach Jahren noch widerrufen und rückabwickeln können, sofern die Widerrufsbelehrung fehlerhaft war. In diesen Fällen wurde die Widerrufsfrist nie in Gang gesetzt – der Vertrag ist grundsätzlich zeitlich unbegrenzt widerrufbar.
Besonders häufig betroffen sind Vertragsabschlüsse der Jahre 2008 bis 2010, wie die BGH-Urteile zeigen. In diesem Zeitraum verwendeten viele Anbieter fehlerhafte Belehrungstexte, was nun erstmals höchstrichterlich bestätigt wurde. Aber auch danach gab es vereinzelt noch mangelhafte Widerrufsinformationen, sodass je nach verwendetem Belehrungstext selbst Verträge nach 2010 im Einzelfall widerrufbar sein können. Die aktuelle Rechtsprechung schafft somit Klarheit in einem Graubereich und stärkt die Rechte von Verbrauchern im Bereich der Lebens- und Rentenversicherungen. Für Rürup-Sparer ist der Widerruf besonders brisant, da es kaum Alternativen gibt, aus solchen Verträgen herauszukommen. Eine Basisrente kann normalerweise nur beitragsfrei gestellt, nicht aber vor Rentenbeginn ausgezahlt oder gekündigt werden. Durch einen erfolgreichen Widerruf hingegen wird der Vertrag aufgelöst, und der Kunde erhält sein Vertragsguthaben ausgezahlt – inklusive Überschussbeteiligungen sowie Erstattung der Abschluss- und Vertriebskosten. So kommt er an das gebundene Kapital, das sonst bis zur Rente in der Police verbleiben müsste. Diese Möglichkeit wurde von Anbietern lange bestritten, ist nun aber durch den BGH höchstrichterlich anerkannt.
Ein Beispiel: In dem vom BGH am 11. Oktober 2023 entschiedenen Fall hatte ein Versicherungsnehmer seine 2009 abgeschlossene Rürup-Rente im Jahr 2020 widerrufen. Die Versicherung lehnte ab, doch letztlich bestätigte der BGH die Wirksamkeit des Widerrufs, da der Kunde nicht ordnungsgemäß belehrt worden war. Das Ergebnis: Der Versicherer muss die Basisrente rückabwickeln und den ungezillmerten Rückkaufswert (alle Beiträge abzüglich bereits verbrauchter Risiko- und Verwaltungskosten) plus Überschüsse und Verzinsung auszahlen. Dieser Präzedenzfall sowie das Folgeurteil vom Januar 2024 zeigen, dass Widerruf auch bei Rürup-Verträgen ein gangbarer Weg ist – selbst lange nach Vertragsabschluss.
Typische Fehler: Wann besteht ein Widerrufsrecht?
Die zentrale Voraussetzung für einen erfolgreichen Widerruf ist eine fehlerhafte Widerspruchs- beziehungsweise Widerrufsbelehrung zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, welche typischen Fehler in den Belehrungen der Versicherer auftraten:
- Unklarer Fristbeginn: Häufig wurde nicht deutlich mitgeteilt, dass es ausreicht, den Widerruf innerhalb der Frist abzusenden, statt ihn innerhalb der 14- beziehungsweise 30-tägigen Frist beim Versicherer eintreffen zu lassen. Fehlt dieser Hinweis, läuft die Frist nicht an.
- Form des Widerrufs: Seit 2002 muss die Belehrung ausdrücklich auf die Textform (zum Beispiel E-Mail, Fax) hinweisen, nicht auf strenge Schriftform mit Original-Unterschrift. Wurde dennoch „Schriftform“ verlangt oder der Hinweis auf Textform weggelassen, ist die Belehrung fehlerhaft.
- Drucktechnische Hervorhebung: Die Widerrufsinformation muss deutlich sichtbar sein (etwa Fettdruck oder Rahmen) und sich vom übrigen Vertragstext abheben. Wenn sie im Kleingedruckten der Bedingungen „versteckt“ ist, entspricht das nicht den gesetzlichen Vorgaben.
- Unvollständige Unterlagen: Mitunter haben Versicherer versäumt, dem Kunden bei Vertragsschluss alle notwendigen Verbraucherinformationen auszuhändigen. Auch unvollständige Vertragsunterlagen (zum Beispiel fehlende Bedingungen oder Produktinformationen) führen dazu, dass die Widerrufsfrist nicht zu laufen beginnt.
- Unterbliebener Hinweis auf die Pflicht zur Herausgabe gezogener Nutzungen: Trotz ansonsten ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung fehlt vor allem bei Rürup-Verträgen aus den Jahren 2008 bis 2010 häufig ein entscheidender Hinweis: die Pflicht zur Herausgabe gezogener Nutzungen. Dieser Belehrungsmangel verhindert den Fristbeginn, sodass ein Widerruf auch noch Jahre später möglich ist.
Treffen solche Fehler zu, gilt: Die Widerrufsfrist hat nie begonnen, der Vertrag kann also grundsätzlich noch widerrufen oder widersprochen werden. Dies betrifft – wie oben dargestellt – vor allem Verträge zwischen 1994 und 2007 (Policenmodell) sowie etliche Verträge um 2008 bis 2010, als gesetzliche Musterbelehrungen neu eingeführt wurden. Aber auch darüber hinaus sind Einzelfälle möglich, sofern die jeweilige Belehrung gegen Vorschriften verstößt. Finanzberater sollten deshalb bei älteren Policen ihrer Kunden immer einen Blick auf die Widerrufsbelehrung und die ausgehändigten Unterlagen werfen.
Da es sich um ein komplexes juristisches Thema handelt, ist eine fundierte Prüfung und eine entsprechende anwaltliche Begleitung des Widerrufs in der Regel notwendig.