Extremwetter für Versicherer - Prozesse neu denken

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Extremwetterereignisse sind längst kein Randthema mehr. Sie bestimmen Nachrichten, beschäftigen Vorstände und wirken sich direkt auf die finanziellen Ergebnisse von Versicherern aus. Doch während sich die Diskussionen oft auf unmittelbare Elementarschäden konzentrieren, gibt es drei Entwicklungen, die in der Wahrnehmung des Managements häufig zu kurz kommen, warnen Christian Kortebein und Amir Amini von der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Forvis Mazars.

1. Dominoeffekte und nicht-lineare Akkumulation

Der erste Aspekt betrifft die Dominoeffekte von Extremwetter. Stürme und Überschwemmungen lösen Kaskaden aus, die zu nicht-sachbezogenen Schäden wie Haftungsstreitigkeiten, Lieferkettenstörungen oder Betriebsunterbrechungen führen. Hitzewellen stoppen nicht nur Produktionen oder verursachen Reiseausfälle, sondern können durch übereilte Notfallmaßnahmen auch Cyber-Schäden verursachen. Diese Kettenreaktionen erhöhen Versicherungsschäden rasch, und traditionelle Katastrophenbewertungen berücksichtigen nicht-lineare Akkumulationen oft unzureichend.

Beispiele: Das Juni-Hochwasser 2024 verursachte laut GDV 187,5 Mio. € Gesamtschäden, davon 53 Mio. € durch Betriebsunterbrechungen. Orkan Kyrill 2007 zeigte, wie umgestürzte Bäume ganze Produktionsketten lahmlegen können. Und das Rhein-Niedrigwasser 2018 brachte die Industrie durch Engpässe bei der Versorgung ins Stocken. Klassische Katastrophenmodelle unterschätzen diese nicht-linearen Verkettungen häufig.

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Für Versicherer ist daher nicht allein die Eintrittswahrscheinlichkeit entscheidend, sondern die Resilienz der Bilanz: Kann ein Unternehmen Schocks verkraften, ohne dass Combined Ratio oder Unternehmenswert wesentlich leiden? Gefordert ist ein Wechsel von reaktiver Schadensbewältigung hin zu proaktiver Risikosteuerung.

Daher ist zu empfehlen, realistische Szenarien für Preis- und Risikomodelle zu entwickeln, die segmentübergreifend und nicht lineare Akkumulationen berücksichtigen.

2. Verborgene Gefahren: Nicht modellierte Risiken und mangelhafte Daten

Der zweite Punkt sind die verborgenen Gefahren durch Modelllücken und Datenprobleme. Katastrophenmodelle decken oft nur einen Teil der Risiken ab. Hitzewellen zerstören Ernten, Hagel beschädigt Solaranlagen, Dürren sprengen Dämme, Waldbrände bedrohen Wohngebiete und Infrastruktur. Diese sekundären Gefahren gewinnen in Europa und Deutschland an Relevanz.

In gut modellierten Bereichen wie Überschwemmungsgebieten mögen die Modelle ausreichen, stießen aber bei Ereignissen wie der Flut im Ahrtal 2021 an ihre Grenzen. Bei nicht modellierten Risiken, insbesondere solchen, die durch den Klimawandel verstärkt werden und in historischen Schäden nicht unbedingt berücksichtigt sind, entstehen Schwachpunkte.
Die folgende Grafik veranschaulicht, dass sekundäre Gefahren zunehmend an Bedeutung gewinnen und dass die weltweiten Schäden durch Naturkatastrophen insgesamt deutlich zunehmen:

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Noch schwieriger wird es, wenn Daten unvollständig und veraltet sind – das kann auch bei der Qualitätssicherung zu Interessenskonflikten führen, insbesondere bei zu starker Abhängigkeit von Maklern.

Wer auf dieser Basis Risiken bewertet, riskiert systematische Fehleinschätzungen. Deshalb muss Datenqualität schon im Underwriting beginnen. Dazu gehören jährliche unabhängige Prüfungen der Bestände, präzise Geocodierung und vollständige Attributdaten. Ebenso wichtig sind Investitionen in moderne Dateninfrastrukturen und die gezielte Weiterbildung von Mitarbeitenden. Nur so entstehen Szenarien, die auch bislang nicht modellierte Risiken realistisch abbilden.

Ein Dashboard zur Überwachung von Risikosituation (Exposure) und Datenqualität sowie realistische Katastrophenszenarien, die auch nicht modellierte Risiken abdecken, sind empfehlenswert.

3. Perspektivwechsel: vom Kurzfristdenken zur Langfriststrategie

Der dritte Trend betrifft den Blickwinkel. Extremwetter erfordert eine langfristige Sichtweise und eine gründliche Überprüfung des Portfolios, um zu ermitteln, wo Exponierung im Zuge aufkommender Klimarisiken langfristig problematisch werden könnten. Küstengebiete, Waldbrandzonen und dürregefährdete Regionen werden zunehmend nicht versicherbar. Rückversicherungsprämien werden weiter steigen, solange die Volatilität hoch bleibt und Klimaschäden zunehmen.

Eine aktuelle Studie der Universität Mannheim und der Europäischen Zentralbank zeigt, dass Extremwetter die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit europäischer Regionen über Jahre schwächt. Zwei Jahre nach einer Hitzewelle liegt das regionale Bruttoinlandsprodukt im Schnitt um 1,5 Prozentpunkte niedriger, nach vier Jahren belaufen sich die Verluste auf drei Prozentpunkte nach Dürren und 2,8 Prozentpunkte nach Überschwemmungen. Für Versicherer heißt das: Wer Nachhaltigkeits-Scores in das Underwriting integriert oder Kunden zu präventiven Maßnahmen motiviert, schützt nicht nur die eigene Profitabilität, sondern erschließt sich auch neue Geschäftschancen.

Die nachfolgende Grafik zeigt die relativen Veränderungen des jährlich erwarteten Schadens durch Hochwasser in Deutschland. Sie veranschaulicht, wie sich die Schäden unter zwei unterschiedlichen Klimapfaden entwickeln – NGFS Current Policies und NGFS Net Zero. Allein durch die globale Erwärmung wird im Median ein Anstieg der Schäden um 86,1 % bis 2045 erwartet, wenn die Klimapolitik nicht weiter verschärft wird. Die Daten zeigen eine sehr hohe Volatilität, aber auch das Szenario „Extremer Regen“ zeigt einen eindeutigen Anstieg für Deutschland, was eine Zunahme von Hochwasser impliziert.

Es wird empfohlen, regelmäßig sogenannte Klimastresstests für Versicherungs- und Investmentaktivitäten einzuführen. So lassen sich mögliche Auswirkungen auf die Bilanz und die Profitabilität im Underwriting besser einschätzen. Öffentlich verfügbare Klimarisikoprognosen sollten mit Vorsicht genutzt werden, da sie ein gründliches Verständnis der zugrunde liegenden Annahmen erfordern.

Fazit: Untätigkeit ist das größte Risiko

Das Fazit ist klar: Untätigkeit ist das größte Risiko. Klimarisiken und Szenarien sind längst nicht mehr nur eine regulatorische Pflicht im Rahmen von Solvency II oder des „Own Risk and Solvency Assessment“ (ORSA). Sie sind ein strategisches Instrument, um Produktportfolios und Kapitalanlagen zukunftsfähig zu steuern. Wer verkettete Effekte ignoriert, riskiert steigende Schadenquoten und eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit. Wer dagegen diszipliniertes Underwriting, vorausschauende Preisgestaltung und präventive Maßnahmen verbindet, sichert die Profitabilität auch in einem volatilen Umfeld.