Wie Krankenversicherer durch verantwortungsvolle AI-Nutzung profitieren

Quelle: DALL-E

Steigende Kundenanfragen und Fachkräftemangel setzen die Krankenversicherer zunehmend unter Druck. Künstliche Intelligenz könnte ein Schlüssel zur Lösung sein. Doch ihr Einsatz bleibt komplex und regulatorisch anspruchsvoll. Wie Versicherer jetzt handeln sollten und warum der AI-Act als Chance gesehen werden muss, erklärt Johannes Neumeyer, Strategie Senior Manager bei Accenture.

Deutsche Krankenversicherer stehen trotz stabiler Geschäftsentwicklung und hohem Automatisierungsgrad unter zunehmendem Druck. Eine der zentralen Herausforderungen ist das weiter steigende Interaktionsvolumen, das in der Krankenversicherung ohnehin bereits auf einem hohen Niveau liegt und in den letzten drei Jahren bei vielen Krankenversicherern um 50 bis 100 Prozent zugenommen hat. Durch zunehmende alters- und krankheitsbedingte Reduzierung von Sachbearbeiterkapazitäten entstehen immer größere Rückstände im Kundenservice und im Leistungsmanagement. Gleichzeitig erwarten die Kunden der Krankenversicherer ein Serviceniveau, das sie aus anderen Lebensbereichen kennen.

In diesem Spannungsfeld gewinnt ein Thema seit Jahren zunehmend an Bedeutung: Artificial Intelligence (AI). Kaum ein anderes Thema dominiert die Diskussion um die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft derzeit so stark wie AI. Mit dem EU AI Act zeichnet sich auch der regulatorische Rahmen ab, der den Einsatz der Technologie in klare Bahnen lenkt und insbesondere hohe Anforderungen an Transparenz, Sicherheit und ethische Verantwortung stellt. Doch die Krankenversicherungen zeigen sich aktuell noch sehr zurückhaltend in der Implementierung von AI. Dabei stellt sich die zentrale Frage: Wie kann AI dazu beitragen, die strukturellen Herausforderungen der Branche nachhaltig zu bewältigen und gleichzeitig die steigenden Kundenerwartungen zu erfüllen?

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Einsatzmöglichkeiten von AI in der Krankenversicherung vielfältig

Die naheliegendste Anwendung von AI ist die Nutzung der Technologie als Enabler für strukturierte Datenverarbeitung. Unstrukturierte Daten, beispielsweise aus Freitext-E-Mails, Briefen, Gutachten oder Belegen, stellen eine der größten Herausforderungen für die Automatisierung dar. AI kann relevante Informationen, insbesondere aus Sprach- und Bilddateien, extrahieren und so manuellen Aufwand einsparen sowie präziseres Routing ermöglichen – sei es zur weiteren Bearbeitung durch eine regelbasierte Automatisierung, eine spezialisierte AI oder klassisch in der Hellbearbeitung durch die Sachbearbeitung.

Darüber hinaus kann die AI Sachbearbeiter durch assistierte Bearbeitung unterstützen. In komplexen Fällen bleibt menschliche Interaktion, Bewertung und Interpretation erforderlich. Das Prinzip des Human-in-the-loop ist Krankenversicherern vertraut. AI kann Texte zusammenfassen, Expertenwissen aus internen Datenbanken bereitstellen und Anfragen priorisieren, um beispielsweise die Effizienz von Vertriebsmitarbeitern zu verbessern. AI-assistierte Bearbeitung verschiebt den Fokus der Mitarbeitenden zunehmend von transaktionalen Tätigkeiten wie der Zusammenstellung von Informationen hin zu analytischen Aufgaben. Ein aktuell verbreiteter Use Case hierfür ist beispielsweise die Bereitstellung von Informationen aus Tarifwerken und Regulierungsrichtlinien. Anstatt die Dokumente im Original zu lesen, können spezifische Fragen gestellt und bei Bedarf die relevante Originalstelle referenziert werden. Ein anderer Use Case ist die Erstellung von individuellem Schriftverkehr, bei dem die AI rund um verfügbare Daten oder Inputs der Sachbearbeiter Texte ausformuliert. Um diese neue assistierte Bearbeitung effektiv und verantwortungsvoll einzusetzen, müssen neue Fähigkeiten bei den Mitarbeitenden entwickelt werden.

Im besten Fall kann die AI auch bei (Teil-)Automatisierung komplexer Prozesse und fachlicher Entscheidungsunterstützung eingesetzt werden. Die regelbasierte Automatisierung wird bereits heute für einfache Aufgaben wie TAA-Entscheidungen oder Leistungsabrechnungen genutzt. Regelbasierte Automatisierung stößt aber bei komplexen Prozessen oder Prozessen mit hoher Varianz und damit verbundenen kleinen Fallzahlen an ihre Grenzen. Der Aufwand zur Abbildung der Regeln ist in Relation zu den Fallzahlen von individuellen fachlichen Konstellationen zu gering. Für komplexere Prozesse ist eine AI mit höherer Fachlichkeit erforderlich, die nicht nur Daten verarbeitet, sondern auch fachliche Zusammenhänge versteht und interpretiert. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn die zu bewertenden Informationen in unstrukturierten Formaten vorliegen, etwa in Arztbriefen, Gutachten, Reha-Berichten oder Freitextangaben im Leistungsantrag. Mit AI können zum Beispiel bei der Prüfung von Reha-Maßnahmen aus Arztbriefen Diagnosen und Therapieempfehlungen erkannt und die medizinische Notwendigkeit gemäß den Versicherungsbedingungen und dem aktuellen Stand der medizinischen Leitlinien geprüft werden. In Kombination mit der Prüfung, ob eine vergleichbare Maßnahme bereits innerhalb eines bestimmten Zeitraums bewilligt wurde oder ob es regionale Besonderheiten in der Leistungserbringung gibt, ließen sich heute aufwändige Prüfungen durch die Sachbearbeiter sukzessive automatisieren.

Neue Lösungen schaffen spürbare Vorteile für Versicherung und Versicherte

AI hat das Potenzial, um die Kundenzufriedenheit zu verbessern, Prozesse effizienter zu gestalten und die Bearbeitungsqualität zu steigern. Durch mehr Dunkelverarbeitung und in der Folge weniger Rückstände erhalten Kunden schnelle Rückmeldungen. Conversational AI, sprich eine künstliche Intelligenz, die in der Lage ist, ein Gespräch oder eine sprachliche Interaktion automatisiert zu führen, kann Services auch 24/7 in größerem Umfang bereitstellen. Durch schnellere und besser verfügbare Services kann die Kundenzufriedenheit gesteigert werden. Die Automatisierung von Prozessen reduziert zudem Prozesskosten. Darüber hinaus wird vor dem Hintergrund der alternden Belegschaft hierdurch die Basis für dauerhafte Handlungsfähigkeit in Antrag, Vertrag und Leistung gelegt. Die Qualität kann mit einer AI gestützten Bearbeitung zum Beispiel bei Zeichnung, Leistung und Betrugserkennung verbessert werden. Durch die Aufbereitung komplexer Sachverhalte bleibt mehr Zeit für inhaltliche Entscheidungen, etwa in der Risikoprüfung oder Leistungssteuerung, während die Identifikation manipulierter Belege oder intelligente Regelwerke dazu beitragen ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden. Dies wirkt sich positiv auf das versicherungstechnische Ergebnis aus.

Chancen des AI-Acts nutzen und Umgang mit Risiken adressieren

Die Nutzung von AI durch Krankenversicherer wird grundsätzlich erlaubt. Im Mittelpunkt steht dabei die Risikoklassifizierung der AI-Anwendungen – insbesondere die Identifikation von hochriskanter und verbotener Anwendungen. Hochrisiko-Anwendungen sind unter strengeren Auflagen weiterhin nutzbar. Anwendungsfälle mit geringer Fachlichkeit, wie der Einsatz von AI zur Datenextraktion beispielsweise in der Schrifterkennung, gelten unter dem AI-Act voraussichtlich als unkritisch. Herausfordernder werden Anwendungsfälle, in denen die AI fachliche Entscheidungen trifft oder in der assistierten Bearbeitung Entscheidungen stark beeinflusst. Hier besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass solche Anwendungen als Hochrisiko klassifiziert werden, was für Krankenversicherer in der Umsetzung eine große Herausforderung darstellt. Für diese Hochrisiko-Anwendungen existieren bei den meisten Krankenversicherern bereits grundlegende Prozesse, die jedoch an die spezifischen Anforderungen des AI-Acts angepasst werden müssen. Die im AI-Act geforderte Prüfung durch einen Mitarbeitenden, beispielsweise bei einer Leistungskürzung, ist in vielen Häusern bereits gelebte Praxis.

Darüber hinaus ergeben sich Synergien bei der Umsetzung bestehender Regulatorik, wie VAIT und DORA. Insbesondere Transparenz- und Dokumentationspflichten können angepasst werden, um eine gleichzeitige Konformität mit dem AI-Act sicherzustellen. Letztendlich müssen Krankenversicherer Erfahrungen im Umgang mit dem AI-Act sammeln und Kompetenzen aufbauen. Es ist entscheidend, jetzt in die Umsetzung zu gehen, um Erfahrungen mit der Technologie als auch im Umgang mit dem AI-Act zu sammeln.

Agentic AI als neue Stufe bestehender AI-Lösungen

Während der AI-Act den rechtlichen Rahmen für den Einsatz von AI definiert und Krankenversicherer vor die Herausforderung stellt, Hochrisiko-Anwendungen konform zu gestalten, eröffnet die Weiterentwicklung von AI-Technologien, wie Agentic AI, neue Möglichkeiten. Diese nächste Stufe der AI-Entwicklung verspricht nicht nur eine höhere Autonomie und Effizienz, sondern könnte auch dazu beitragen, die Anforderungen des AI-Acts durch innovative Ansätze besser zu erfüllen.

AI Agents sind autonome Softwarekomponenten, die auf Basis von Informationen aus ihrem Fachgebiet eigenständig planen, Entscheidungen treffen und Aktionen durchführen können. Dabei nutzen sie eigens entwickelte oder AI-basierte Werkzeuge innerhalb klar definierter Grenzen. Das Konzept der Agentic AI entwickelt sich rasant und löst klassische AI sowie regelbasiertes Routing und Automatisierungen in bestimmten Bereichen zunehmend ab. Im Gegensatz zur traditionellen AI agieren agentenbasierte AI-Systeme autonomer, lösen komplexe, mehrstufige Probleme, holen bei Bedarf menschliches Feedback ein, lernen auf Basis von internen sowie externen Wissensquellen und optimieren ihre Abläufe fortlaufend.

Durch den zusätzlichen Einsatz einer Orchestrierungslösung können verschiedene AI Agents auch miteinander kombiniert werden, um einen höheren Automatisierungsgrad zu erreichen und komplexere Aufgaben zu lösen. So kann beispielsweise ein AI Agent den Brief eines Kunden auslesen, während ein anderer die extrahierten Informationen direkt in das entsprechende System überträgt.

Strategischer Fokus und ausreichende Ressourcen unerlässlich für verantwortungsvollen AI-Einsatz

Der AI Act wird eine zusätzliche Herausforderung bei der Nutzung von AI in der Krankenversicherung. Angesichts der Chancen von AI für mehr Kundenzufriedenheit, mehr Effizienz und höherer Qualität in der Bearbeitung sollte dies jedoch kein Hindernis sein. Krankenversicherungen sollten zeitnah Erfahrungen sammeln und Synergien mit bestehender Regulatorik nutzen. Es ist entscheidend, aktiv zu lernen, in welchem Kontext und Umfang AI sinnvoll eingesetzt werden kann, und Mitarbeitende entsprechend zu schulen. Um die Potenziale von AI verantwortungsvoll zu realisieren, müssen Versicherer ausreichende Kapazitäten sowie Kompetenzen einplanen und die richtigen Prozesse definieren. Der effektive und verantwortungsvolle Einsatz von AI gelingt nur, wenn die richtige Person ihre Verantwortung kennt, die Arbeitsabläufe versteht und genügend Zeit hat, um ihre Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen.

Besonders spannend ist der Ansatz von Agentic AI, da er nicht nur die Anwendungsbereiche von AI erweitert, sondern auch im Rahmen einer verantwortungsvollen Nutzung von Bedeutung ist. Durch die spezifischen Aufgaben einzelner Agenten wird die Gesamtkomplexität reduziert, was es Versicherern ermöglicht, Lösungen und identifizierte Probleme schneller und gezielter zu analysieren. Gleichzeitig bleibt es essenziell, potenzielle negative Auswirkungen auf Menschen frühzeitig zu erkennen und wirksam zu mitigieren. Nur so kann ein verantwortungsvoller Umgang mit AI sichergestellt werden, der sowohl die Chancen als auch die Risiken im Blick behält.