In einem Kapitalmarktumfeld, das von Ungewissheit, Zinsschocks und konjunkturellen Spannungen geprägt ist, erleben klassische Bewertungsmaßstäbe eine Renaissance. Value Investing, lange Zeit als zu defensiv oder überholt betrachtet, zeigt gerade in volatilen Phasen seine ganze Stärke. Wer in unterbewertete Substanzwerte investiert, setzt nicht auf kurzfristige Kursfantasien, sondern auf nachhaltige Ertragskraft, solide Bilanzen und die Rückkehr zu ökonomischer Vernunft. Wichtig ist, Qualität von bloßem Preisnachlass zu unterscheiden und gerade in turbulenten Zeiten auf bewährte Prinzipien zurückzugreifen, betont Harald Sporleder von der Value-Investmentboutique Lingohr Asset Management.
Die Kapitalmärkte sind von zunehmender Unsicherheit geprägt. Globale Konflikte, geldpolitische Wendepunkte, technologischer Strukturwandel und geopolitische Spannungen führen immer häufiger zu heftigen Schwankungen an den Börsen. Inmitten dieses volatilen Umfelds wirkt eine Anlagephilosophie wie ein Anker der Vernunft: das Value Investing. Die Strategie, die auf den Prinzipien von Benjamin Graham und Warren Buffett beruht, verfolgt einen nüchternen, faktenbasierten Ansatz. Sie orientiert sich nicht an Marktsentiment oder kurzfristigen Trendbewegungen, sondern an der fundamentalen Substanz eines Unternehmens – und entfaltet ihre Stärke gerade in den Momenten, in denen die Märkte irrational erscheinen.
Value Investing bedeutet, gezielt in Unternehmen zu investieren, deren Börsenbewertung unter ihrem inneren Wert liegt. Diese sogenannte Unterbewertung kann viele Gründe haben: schlechte Stimmung in einem Sektor, temporäre Ergebnisrückgänge, regulatorische Unsicherheiten oder ein allgemein pessimistisches Marktumfeld. Doch Value-Investoren betrachten solche Situationen nicht als Risiko, sondern als Chance. Wer die langfristige Ertragskraft, Bilanzqualität und Marktstellung eines Unternehmens analysiert und dem gegenüber den aktuellen Kurs setzt, kann ein attraktives Chance-Risiko-Verhältnis identifizieren – vorausgesetzt, man ist in der Lage, zwischen einem strukturell schwachen Unternehmen und einem temporär unterbewerteten Substanzwert zu unterscheiden.
Value-Indizes seit Zinsanstieg ab 2022 im Fokus
Zahlen stützen diesen Ansatz. So zeigt etwa eine umfassende Untersuchung des US-amerikanischen Research-Hauses Fama/French, dass Value-Aktien über lange Zeiträume hinweg eine deutlich höhere Rendite erwirtschaften als Wachstumswerte. Von 1927 bis 2022 erzielten Value-Portfolios in den USA im Durchschnitt eine jährliche Rendite von rund 12,7 9 Prozent, während sogenannte Growth-Portfolios bei etwa 9,9 Prozent lagen. Besonders deutlich wurde der Vorteil in Marktphasen mit konjunkturellen Eintrübungen oder steigenden Zinsen, in denen Wachstumswerte unter höheren Abzinsungsraten litten, während Value-Titel von solider Kapitalstruktur, stabilen Cashflows und oftmals attraktiver Dividendenrendite profitierten.
Auch in jüngerer Zeit lassen sich diese Muster beobachten. Während das Jahrzehnt nach der Finanzkrise vor allem von expansiver Geldpolitik und damit einem „goldenen Zeitalter“ für Wachstumsunternehmen geprägt war, änderte sich das Bild spätestens mit dem Zinsanstieg ab 2022. Value-Indizes konnten in dieser Phase überdurchschnittlich stark zulegen, insbesondere Sektoren wie Energie, Finanzen und klassische Industrie. Investoren, die während der vorangegangenen Schwächephasen an diesen Titeln festhielten oder gezielt einsteigen konnten, wurden für ihre Geduld belohnt.
Differenzierung zwischen „billig“ und „günstig“ wichtig
Der Schlüssel zum erfolgreichen Value Investing liegt jedoch nicht allein in der Auswahl „billiger“ Aktien. Denn ein niedriger Kurs allein macht noch keinen guten Kauf. Entscheidend ist die Differenzierung zwischen „billig“ und „günstig“. Während erstere oft ein Ausdruck realer Probleme im Geschäftsmodell sein kann, weist eine günstige Aktie auf ein solides Unternehmen hin, das aus temporären Gründen unterbewertet ist. Die Identifikation solcher Titel erfordert eine tiefgehende Fundamentalanalyse – von Bilanzstruktur und Eigenkapitalquote über Margenstabilität bis hin zur Marktstellung und Kapitalallokation des Managements. Bewertungskennziffern wie Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) oder freier Cashflow pro Aktie können Hinweise liefern, entfalten aber ihre Aussagekraft nur im Kontext qualitativer Bewertungskriterien.
Gerade in Phasen erhöhter Volatilität, in denen viele Marktteilnehmer in Panik verfallen oder ihre Strategien wechseln, bietet Value Investing eine wohltuende Konstanz. Wer systematisch in unterbewertete Unternehmen investiert und gleichzeitig ein hohes Maß an Disziplin und Geduld mitbringt, ist weniger auf Prognosen angewiesen und profitiert von der langfristigen Rückkehr der Bewertung zum Mittelwert. Diese sogenannte Mean Reversion – also die Tendenz von über- oder unterbewerteten Vermögenswerten, langfristig zu ihrem fairen Wert zurückzukehren – ist ein zentrales Element der Value-Strategie.
Dass Value Investing kein Relikt vergangener Jahrzehnte, sondern ein zeitlos gültiger Ansatz ist, zeigt auch das Verhalten institutioneller Investoren. Große Stiftungen, Family Offices und Pensionskassen setzen verstärkt auf Value-orientierte Strategien, weil sie Planbarkeit und Substanz bieten. In Zeiten multipler Krisen und geopolitischer Unsicherheit kommt dieser Rückgriff auf das Fundamentale einem strategischen Selbstschutz gleich. Wer Qualität zu einem vernünftigen Preis kauft, hat langfristig bessere Chancen auf reale Wertsteigerung – unabhängig vom kurzfristigen Marktgeschehen.
Fazit: Wer Substanz kauft, investiert in Stabilität, nicht in Hoffnung
Value Investing ist keine schnelle Lösung für kurzfristige Kursgewinne, sondern ein disziplinierter Weg, Vermögen nachhaltig aufzubauen. In volatilen Zeiten erweist sich dieser Ansatz als besonders tragfähig, weil er nicht von Erwartungen, sondern von überprüfbaren Fakten getragen wird. Die Kunst besteht darin, ruhig zu bleiben, wenn andere nervös werden und dann zuzugreifen, wenn Qualität zum Ausverkaufspreis angeboten wird. Die Stärke des Value Investing liegt in seiner Widerstandskraft gegenüber kurzfristigen Moden und seiner Nähe zur ökonomischen Realität. In einer Zeit, in der künstliche Bewertungen und hohe Erwartungen an zukünftige Wachstumsfantasien zunehmend hinterfragt werden, gewinnen echte Werte und solide Unternehmen wieder an Bedeutung. Langfristig betrachtet zeigt sich: Wer Substanz statt Stimmung kauft, liegt zwar nicht immer vorn – aber am Ende häufig richtig.