Wird heutzutage über die gesetzliche Pflegeversicherung gesprochen, dann oft mit einem kritischen Unterton. Die Pflegebeiträge steigen, und was die Betroffenen an finanzieller Unterstützung erhalten, deckt nur einen Bruchteil der tatsächlichen Pflegekosten ab. Pflege entpuppt sich als Armutsfalle: Schon vierzig Prozent der Patienten, die stationär gepflegt werden, sind auf zusätzliche Sozialleistungen angewiesen. Es scheint, als sei die Pflegeversicherung selbst ein Patient, der fremder Hilfe bedarf. Die Rufe nach einer Reform werden lauter.

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Dabei wird gern vergessen, dass die gesetzliche Pflegeversicherung eine recht junge Errungenschaft ist. Im Bundestag verabschiedet wurde sie am 11. März 1994 unter dem damaligen Bundesarbeits- und Sozialminister Norbert Blüm (CDU). „Heute ist ein guter Tag für den Sozialstaat“, diktierte Blüm damals in die Mikrofone. Bis zuletzt wurde hinter verschlossenen Türen über die Finanzierung gezankt und gestritten, fast drohte die Reform zu scheitern. Vor allem die Arbeitgeber lehnten sich gegen die Pflegeversicherung auf: sie wollten sich nicht zur Hälfte an der Finanzierung beteiligen, wie es damals noch vorgesehen war. Die Arbeitgeberverbände hatten das Vorhaben als „größte Torheit der letzten Jahrzehnte“ bezeichnet.

Norbert Blüm bezeichnet Pflegeversicherung als „großen Fortschritt“

Doch heute, zum zwanzigjährigen Jubiläum der gesetzlichen Pflegeversicherung, will sich Norbert Blüm die Reform nicht schlechtreden lassen. „Ich bleibe dabei, dass es ein großer Fortschritt war“, sagte der Politiker im ARD Morgenmagazin, nachdem er von Moderator Sven Lorig mit der aktuellen Kritik konfrontiert wurde. „Sie müssen mal überlegen, wie es vorher war. Da gab es nur Sozialhilfe. In Sachen ambulanter Pflege: nichts! Mit der Pflegeversicherung ist überhaupt erst ein Netz von Pflegediensten entstanden. Die gab es vorher nicht. Insofern, ich bleibe dabei: ein großer Schritt nach vorne!“

Zugleich aber räumt Blüm ein, dass die Pflegeversicherung ihr Ziel noch nicht erreicht habe. „Was hätten Sie mit dem heutigen Wissen damals vielleicht anders machen können?“, fragt ihn der Moderator. „Wichtig ist, dass natürlich der Pflegebegriff -wir mussten vorsichtig sein, wir hatten keine Erfahrung- zu stark auf die körperlichen Defizite eingeschränkt war. Und da muss man wissen, dass natürlich seelische und geistige auch Pflegebedürftigkeit auslösen können.“

Zudem müsse man raus aus der Alternative: entweder allein zu Hause oder ab ins Heim. Denn zwischen der Pflege in den eigenen vier Wänden und einer stationären Betreuung gebe es tausende Abstufungen. „In diesen Zwischenräumen muss eine große Infrastruktur von Tagespflegeplätzen, von höchst unterschiedlichen Angeboten entstehen“, so Blüm. Da brauche die Gesellschaft auch mehr Phantasie: „Die Pflegebedürftigen nicht rausschieben, sondern im Leben integriert lassen.“ Auch die Krankenversicherungen müssten sich dabei mit Reha-Angeboten stärker engagieren.

Kleine Schritte statt großer Reformen

Wenig hält Norbert Blüm von Überlegungen, die gesetzliche Pflegeversicherung mit einem „großen Wurf“ zu reformieren. "Diese Phrasen kenne ich. Der große Wurf. Da haben die vor der Pflegeversicherung auch zwanzig Jahre nach dem großen Wurf gesucht. Da werden die die nächsten 100 Jahre auch noch suchen. Ich bin ein Sozialpolitiker der kleinen Schritte, in der man Erfahrungen einbauen kann.“ Große Würfe ließen sich am Reißbrett entwerfen, aber „Sozialpolitik war nie revolutionär, ist immer Schritt für Schritt vorgegangen.“ Nochmal das ganze Haus einreißen und dann von vorn anfangen: das sei Sache für Ideologen und Romantiker. „Ich bin dafür, das vorhandene auszubauen. Da gibt es genug zu tun.“

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Im nächsten Jahr wird Norbert Blüm 80 Jahre alt. Auf die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung wird der frühere Minister dann mit Stolz zurückblicken. Sollte er selbst ein Pflegefall werden, dann wünscht er sich, möglichst lange in den eigenen vier Wänden bleiben zu dürfen. Oder in ein Heim zu kommen, „dass menschlich ist“, mit zuvorkommenden Pflegekräften. „Also, ich hab auch da kein Patentrezept. Lassen wir 's mal kommen!“

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