Der deutsche Windradhersteller Enercon, beheimatet im ostfriesischen Örtchen Aurich, staunte nicht schlecht, als er Ende der 90er Jahre ein neues Verfahren zur Stromgewinnung in den USA anmelden wollte. Jahrelang hatten Spitzeningenieure an der Technologie gebastelt, speziell für den Export versprach man sich große Potentiale. Doch das amerikanische Konkurrenzunternehmen Enertech beanspruchte die Erfindung für sich und hatte in Übersee bereits alle Patentrechte angemeldet. Dem deutschen Unternehmen gingen Umsätze in Millionenhöhe verloren, 300 neue Arbeitsplätze konnten nicht geschaffen werden.

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Was war geschehen? Was der deutsche Windradhersteller damals nicht wissen konnte: Es handelte sich um einen Fall von Industriespionage. Späher des amerikanischen Geheimdienstes NSA hatten in der Telefonzentrale des deutschen Unternehmens geheime Codes abgefangen und an den amerikanischen Konkurrenten weitergegeben. Die Kenetech-Spione nutzten die Daten, um in eine Windkraftanlage des deutschen Unternehmens einzudringen und ein eigenes Modell nachzubauen. Später erklärte ein Mitarbeiter der National Security Agency (NSA) in einer ARD-Sendung, wie er die Erfindung des deutschen Unternehmens geklaut hatte.

Wirtschaftsspionage durch China, Russland – und die USA?

Der Fall von Enercon zeigt: Nicht nur vor China und Russland müssen sich deutsche Unternehmen hüten, wenn es um den Klau innovativer Produkte geht. Auch Nationen wie die USA betreiben Industriespionage, sogar mit Unterstützung der Geheimdienste. Und so mag es kaum verwundern, dass nach dem Bekanntwerden des amerikanischen Spähprogramms PRISM und seines britischen Pendants auch bei deutschen Unternehmern und Politikern die Sorgenfalten tiefer werden.

Dass es das alleinige Ziel der USA sei, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, daran glauben zumindest nach dem Bekanntwerden der jüngsten Abhöraktionen nur wenige Betroffene in Europa. Denn der amerikanische Geheimdienst ließ scheinbar auch Gebäude der EU verwanzen, drang zu internen E-Mails und Dokumenten auf den Computern der EU-Parlamentarier vor. In der schwarz-gelben Koalition wird nun offen der Verdacht geäußert, Ziel der USA sei auch das Ausspionieren von Unternehmen.

“Die EU ist kein Unterstützer von Terroristen, wohl aber ein starker Konkurrent auf dem Weltmarkt“, sagte der CSU-Wirtschaftspolitiker Hans Michelbach. Und auch Wolfgang Bosbach (CDU), Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestages, reagierte empört auf die Enthüllungen. Es sei ganz offensichtlich, dass diese Art der Überwachung durch die NSA mit dem Kampf gegen den Terrorismus nichts zu tun haben kann, sagte Bosbach am Montag der Rheinischen Post.

Deutschland ist Schwerpunkt der Überwachungsaktivitäten in Europa

Bestätigung finden die Skeptiker darin, dass ausgerechnet die Wirtschaftsnation Deutschland ein Schwerpunkt der NSA-Überwachung ist. Der Spiegel hatte berichtet, in der Bundesrepublik seien monatlich rund eine halbe Milliarde Telefonate, E-Mails und SMS überwacht worden. Sogar die Bundesregierung werde offenbar gezielt ausgeforscht. Als Hochtechnologie-Standort ist Deutschland für die Wirtschaftsspionage besonders interessant.

Das schiere Ausmaß der Überwachung lässt auch die Aktivisten vom Chaos Computer Club an den vorgeblichen Motiven der US-Regierung zweifeln. Constanze Kurz, Sprecherin der Hacker-Organisation, sagte kürzlich der FAZ: „Dass es bei Prism wirklich um Terrorismus geht, glauben ohnehin nur noch die ganz Naiven angesichts der Milliarden Datensätze, die pro Monat abgegriffen werden. Denn da nicht hinter jedem Baum ein mutmaßlicher Terrorist lauert, hat in Wahrheit die gute alte Wirtschaftsspionage ein neues prächtiges Gewand bekommen." Paradoxerweise begründet die amerikanische Regierung die Notwendigkeit des Spähprogramms auch damit, das Ausschnüffeln heimischer Unternehmen etwa durch chinesische Spione abzublocken. Betätigt sich der amerikanische Geheimdienst selbst als Produktpirat?

Deutsche Industrie ist alarmiert

Umso alarmierter regiert die deutsche Industrie auf die Enthüllungen. „Die aktuellen Medienberichte über das Ausmaß der Überwachung und Speicherung von Daten durch die NSA sind auch aus Sicht der deutschen Industrie beunruhigend“, zitiert die Frankfurter Rundschau Stefan Mair, Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der deutschen Industrie. „Wir wissen derzeit nicht, in welchem Umfang deutsche Unternehmen von den Aktivitäten der NSA betroffen sind.“ Er forderte eine umfassende Aufklärung des Sachverhalts. Bisher hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz vor allem vor chinesischen Datenspionen gewarnt.

Die NSA betont zwar, keine Inhalte auszuspähen, sondern nur Eckdaten von Telefonaten und E-Mails zu überwachen. Aber auch diese Daten können für die Wirtschaftsspionage genutzt werden, betont der Sicherheitsspezialist Alexander Geschonneck von der Unternehmensberatung KPMG. Stehe etwa ein Unternehmen im ständigen Kontakt mit einer Forschungseinrichtung, so deute dies auf die Entwicklung eines bestimmten Produktes hin.

US-amerikanische Unternehmen melden die meisten europäischen Patente an

Dass die USA auch ohne Wirtschaftsspionage ein äußerst innovationsfreudiges Land sind, zeigt ein Blick auf die Statistik. US-Amerikanische Unternehmen hatten in 2011 24,4 Prozent aller Patentanträge beim Europäischen Patentamt (EPO) angemeldet – so viel wie keine andere Nation. Auf den Plätzen folgen Japan (19,4 Prozent), Deutschland (13,6 Prozent) und China (6,9 Prozent).

Aber nicht zuletzt der erbitterte Patentstreit zwischen Apple und Samsung hatte gezeigt, dass Patente im Zweifel eine Frage von nationaler Wichtigkeit sind. Je mehr sich die technische Entwicklung beschleunigt, umso mehr können kleine Neuerungen über Gedeih und Verderb eines Produktes entscheiden und damit über unzählige Arbeitsplätze im Heimatland des Unternehmens. Brisant ist deshalb eine Enthüllung des Nachrichtendienstes Bloomberg, wonach amerikanische Geheimdienste und Unternehmen eng miteinander kooperieren.

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Wenig überrascht zeigt sich Dieter Kempf vom Branchenverband Bitcom, dass die NSA bei ausländischen Unternehmen schnüffeln könnte. Im Interview mit der Zeit sagte der Experte: “Wirtschaftsspionage gehört zu den Aufgabenbeschreibungen der amerikanischen und britischen Geheimdienste. Dass wir nun vom Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel in diesem Zusammenhang hören, braucht niemanden zu wundern.“

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