In den letzten 20 Jahren hat sich das Schadenmanagement der Versicherer stark geändert. Nicht nur der Siegeszug der Digitalisierung machte Neuerungen notwendig, sondern auch eine Liberalisierung des Versicherungsmarktes, die neue Produktinnovationen ermöglichte und damit zwangsläufig eine Ausdifferenzierung der Schadensabwicklung bewirkte. Auch die Kunden werden u.a. dank des verbesserten Informationsangebotes über digitale Medien immer selbstbewusster und haben eine stetig wachsende Erwartungshaltung an ihre Versicherung.

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Die Versicherungsforen Leipzig widmeten sich auf ihrem Messekongress „Schadenmanagement und Assistance“ am 16-17. April in Leipzig dem Thema. Parallel dazu fand der Messekongress „Gesundheit und Versorgung“ der Schwesterfirma Leipziger Gesundheitsforen statt. Doch welche Herausforderungen stellen sich zukünftig den Versicherern im Schadenmanagement? Darüber referierte Dr. Jochen Tenbieg, Fachmann der Allianz Versicherungs-AG, in seinem Eröffnungsvortrag "Aktuelle und künftige Herausforderungen im Schadenmanagement - Welche Trends werden unsere Arbeit von morgen bestimmen?"

Schadensregulierung ist wichtiger Erfolgsfaktor

Jochen Tenbieg betonte, dass die effiziente Schadensregulierung ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Versicherungsanbieter sei und auch zukünftig bleiben werde. Der deutsche Komposit-Versicherungsmarkt sei weitestgehend gesättigt, eine vergleichsweise hohe Anzahl an Versicherern werbe um eine zunehmend schrumpfende und alternde Bevölkerung. In dem intensiv geführten Verdrängungswettbewerb werden Kundenzufriedenheit und Weiterempfehlungsbereitschaft zu wichtigen Wettbewerbsvorteilen.

Dies gelte umso mehr, da die Schadensregulierung eine der wenigen schwer kopierbaren Differenzierungsmöglichkeiten eines Versicherers nach außen darstellt. Denn während neue Produkte schnell von Wettbewerbern übernommen werden - „Heute wird ein Produkt gemacht und morgen wird es kopiert“, sagte Tenbieg - biete die Schadensregulierung in ihrer Komplexität eine Möglichkeit sich abzuheben.

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Es sei damit zu rechnen, dass eine große Zahl an Versicherern vom Markt verschwindet. Welcher Anbieter aber wird auch zukünftig bestehen können? Dies sei keine Frage der Größe, sondern der richtigen Strategie – und damit der Fähigkeit, Trends und Herausforderungen rechtzeitig zu erkennen. Auch zukünftig sei mit einem Mix von großen und kleinen Anbietern auf dem Kompositmarkt zu rechnen. Im Verlauf des Vortrages ging Tenbieg auf 5 ausgewählte Trends und Entwicklungen im Bereich Schadenmanagement ein.

Trend 1: Versicherungen kooperieren verstärkt mit Dienstleistern

Die Wertschöpfungskette Dienstleister/Versicherer habe in den letzten 20 Jahren dramatische Veränderungen durchlaufen. Während sich noch zu Beginn der 90 Jahre die Zusammenarbeit mit Dienstleistern im Wesentlichen auf Sachverständige beschränkte, kooperieren heute die Versicherungen mit vielen verschiedenen Serviceunternehmen, die unterschiedlichste Leistungen anbieten. Als Beispiel seien im Bereich Kraftfahrtversicherung Kooperationspartner wie Werkstätten und Autoglaser, Prüfdienstleister, Rechtsanwälte sowie Reha- und Pflegedienstleister genannt.

Eine wesentliche Ursache für diese Ausdifferenzierung sei die Tatsache, dass die Dienstleister bestimmte Leistungen billiger anbieten können und weniger strengen Regulierungsvorgaben beachten müssen als die Versicherungen. Allerdings hat der Trend zu mehr Ausdifferenzierung eine Schattenseite. Je mehr Kooperationspartner einbezogen werden, desto mehr Schnittstellen mit externen Partnern entstehen, so dass sich auch die Fehleranfälligkeit bei der Schadenregulierung erhöht. Dies schafft einen zusätzlichen Kontrollbedarf, der wiederum Geld und Ressourcen verschlingt. Wird also der Versicherer zukünftig auf die Funktion als reiner Risikoträger beschränkt, während immer mehr Leistungen nach außen ausgegliedert werden? Daran glaubt Jochen Tenbieg nicht. Statt „schrankfertiger Schäden“ sei eine differenzierte Schadenregulierung erforderlich, die aktiv von den Versicherungen gemanagt werden muss.

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Trend 2: KFZ-Sachverständige konzentrieren sich mehr auf Spezialgutachten

Einen harten Konkurrenzkampf konstatiert Tenbieg nicht nur für die Kompositversicherer im Allgemeinen, sondern auch bei der Berufsgruppe der KFZ-Sachverständigen in der Autoversicherung. Denn die Zahl der Schadensfälle gehe in den letzten Jahren zurück, und was für den Autofahrer gut ist, ist schlecht für einen Berufszweig, der mit Unfällen sein Geld verdient.

Darüber hinaus erwächst den Unfallgutachtern Konkurrenz von einer anderen Seite: technische Neuerungen wie Auto-Scanner, Schall-Sensoren oder Telegutachten ermöglichen eine weitere Automatisierung der Schadensaufnahme, auch wenn diese Techniken noch nicht verbreitet sind. Zudem kooperieren viele Anbieter direkt mit Autowerkstätten und Reparaturbetrieben, was ebenfalls eine Bedrohung für eine Branche darstellt, deren Hauptumsatztreiber -mit den Worten Tenbiegs- „Brot-und Butter-Gutachten“ für die Assekuranz sind.

Dennoch sei nicht damit zu rechnen, dass der KFZ-Sachverständige in Zukunft überflüssig werde wie etwa die Zunft der Schornsteinfeger. Gerade die zunehmende technische Komplexität der Fahrzeuge werde einen zusätzlichen Bedarf an Spezial- und Fachgutachten schaffen, der nicht einfach automatisiert bearbeitet werden kann. Hier ist auch ein wichtiges Betätigungsfeld für den Kfz-Gutachter im Entstehen, ihre Arbeit wird auch zukünftig gebraucht.

Trend 3: Steigende Komplexität der Schadenabwicklung erfordert raffiniertere IT-Lösungen

Wie wird sich der Umgang der Versicherer mit IT-Lösungen entwickeln? Hier konstatiert Tenbieg einen gewissen Nachholbedarf. Lange Zeit habe die Versicherungsaufsicht dafür gesorgt, das hinsichtlich der technischen Innovationsfreudigkeit im Schadenmanagement ein Trägheitsmoment eingebaut gewesen sei, denn Vertragsbedingungen behielten dank strenger Regulierungsvorgaben bis zu 10 Jahre ihre Gültigkeit. Auch die Technik musste sich folglich nur innerhalb einer Dekade anpassen. Die Schaden-IT sei weitgehend auf Basisfunktionen wie Anlage, Text und Exkasso beschränkt gewesen, weil die weitestgehend uniformen Tarife und Versicherungsprodukte keine höheren Ansprüche an die Technik stellten.

Dieses Trägheitsmoment wirke heute noch nach, während sich die Anforderungen an IT-Lösungen nach einer Liberalisierung des Versicherungsmarktes seit rund 20 Jahren grundlegend wandeln. Die Tarife seien heute je nach Unternehmen stark ausdifferenziert, kurze Produktzyklen und eine hohe Produktvielfalt die Regel. Zudem werden zunehmend modulare Tarife angeboten, bei denen der Versicherungskunde nach einem Baukastenprinzip seine Leistungen individuell zusammenstellen kann. Die Lebenssachverhalte der Kunden werden ebenso komplexer wie die Schadenbilder.

Trotz der sich wandelnden Anforderungen kommen die Schadenverarbeitungssystem nur teilweise ihrer Aufgabe nach, Komplexität zu reduzieren und die Abläufe einfacher zu machen. Noch immer sei die Technik auf die bloße Megenverarbeitung uniformer Fälle ausgerichtet, kritisiert Tienbeg. Datenaustausch und Kommunikationswege werden oft nur unzureichend unterstützt. Hier werde es eine weitere Industrialisierung der Abläufe geben mit dem Ziel, die enormen Datenmengen besser zu managen. Der Trend geht hin zu multivariablen IT-Leistungen. Wird der Mensch als „Sachbearbeiter“ damit verzichtbar? Dies verneint Jochen Tenbieg allerdings. Da, wo das Erfahrungswissen des Menschen ausschlaggebend sei, werde auch weiterhin der „Superrechner menschliches Gehirn“ gefragt sein.

Trend 4: Ein aktives Personenschadenmanagement erfordert industrielle Standards

Einen Trend hin zu einer stärkeren Industrialisierung prophezeit Tienbeg auch für das Personenschadenmanagement. Für diese Entwicklung seien ebenfalls neue Anforderungen an die Versicherer verantwortlich. Noch vor zwanzig Jahren sei die Regulierung eines Personenschadens in einer 2-stufigen Segmentierung und Spezialisierung erfolgt, so dass auf die Feststellung der Verletzungsfolgen gegebenenfalls eine Zahlung durch den Versicherer erfolgte. Ein Reha-Management, bei dem die Versicherung die Genesung des Patienten begleitet, sei damals nur in Ausnahmefällen üblich gewesen.

Heute verfolgen Versicherungen hingegen ein aktives Personenschadenmanagement, das durch eine starke Segmentierung nach Verletzungsbildern, ein erweitertes Reha-Management und aktive Bearbeitungsstrategien gekennzeichnet ist. Je mehr die Versicherer jedoch in das Kostenmanagement von Heilung und Pflege der Kunden eingreifen, desto mehr müssen sie sich den industriellen Standards im Gesundheitswesen stellen und diese Standards sogar mitbestimmen, argumentiert der Versicherungsexperte. Das Modell, wonach eine Versicherung nur passiver „Sekundärkostenträger“ ist, gehört damit der Vergangenheit an.

Gerade auf dem sensiblen Gebiet der Personenschäden sei aber ein ausgewogenes Verhältnis von Kundenwünschen und Industrialisierung wichtig. Denn die Industrialisierung des Schadenmanagements verbessere zwar Reaktionsgeschwindigkeiten und reduziere die Fehleranfälligkeit, berge aber auch die Gefahr einer abnehmenden Kundenorientierung und damit der Unzufriedenheit des Versicherungsnehmers.

Trend 5: Widersprüchliche Entwicklungen bei Datenschutz und Kundenkommunikation

Früher bestimmten riesige Papier- und Aktenberge die Aufbewahrung der Kundendaten in der Assekuranz, der Kontakt zum Kunden fand per Briefkommunikation und Fax statt. Heute kann und will sich die Branche den aktuellen Entwicklungen hin zu einer Digitalisierung der Kommunikation nicht verschließen. Elektronische Akten, Excel-Listen und USB-Sticks kommen zum Einsatz, zahlreiche Prozesse werden arbeitsteilig zu Anbietern wie Call-Center ausgelagert. Soziale Netzwerke werden auch von den Versicherern genutzt. Zudem sei die Sensibilität für Datensicherheit gestiegen, da sowohl die Datenschützer ein wachendes Auge auf die Branche werfen als auch das öffentliche Bewusstsein für Datenschutz geschärft wurde.

Jochen Tenbieg beklagt, dass der Datenschutz der Assekuranz zu enge Ketten anlege. Es sei bereits ein Fortschritt gewesen, dass es den Versicherern erlaubt sei Faxe zu senden, scherzt der Experte. Es bestehe ein Widerspruch zwischen dem, was die Kunden erwarten, und dem, was der Datenschutz zubillige. Hier sei die öffentliche Debatte schon weiter, zumal Facebook, Twitter und Co. eine aktive Auseinandersetzung mit der Frage befördern, welche privaten Daten man anderen Personen zugängig mache und welche nicht. „Irgendwann hängen uns die Kunden ab und die hängen auch den Datenschutz ab“, warnt Tenbieg.

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Es stellt sich die Frage: Wird die Assekuranz eine papierbehaftete Branche bleiben oder neue Techniken und eine Infrastruktur für die sichere elektronische Kommunikation finden? Der Austausch sensibler Daten berge immer auch die Gefahr von Missbrauch durch Dritte und im schlimmsten Fall den Verlust an Freiheit, wenn etwa ein totalitärer Staat sich diese Daten zu Nutze macht. „Datenschutz und industrialisierte Prozesse sind schon ein Widerspruch an sich.“, blickt Tenberg mit gemischten Gefühlen in die Zukunft.

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