Am 16. und 17. April laden die Gesundheitsforen Leipzig zum 3. Messekongress "Gesundheit & Versorgung" nach Leipzig ein. Im Vordergrund stehen qualitätsgesicherte und patientenorientierte Versorgung sowie die Analyse und Optimierung von Behandlungsprozessen.

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Versicherungsbote:
Anlässlich des Weltgesundheitstages am 07. April hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Zahlen zusammengetragen, die zeigen, dass in kaum einem anderen Land Patienten so oft im Krankenhaus behandelt werden wie in Deutschland. 240 Klinikaufenthalte pro 1000 Einwohner verzeichnet die Statistik. Nur in Österreich sind es mit 261 noch etwas mehr. Der OECD-Durchschnitt liegt bei nur 155.
Wie erklären Sie sich diese Zahlen?

Frau Dr. Larisch:
In Deutschland werden in der Tat in einigen Bereichen mehr Eingriffe durchgeführt als in anderen Ländern, dazu zählen beispielsweise Herzkatheteruntersuchungen oder Hüftersatz. Ob nun in Deutschland zu viele Eingriffe stattfinden oder in anderen Ländern zu wenig, ist nicht zu beantworten. Es ist richtig, dass es in Deutschland beispielsweise deutlich mehr Krankenhausbetten pro Einwohner gibt als in den USA und fast doppelt so viele Krankenhausaufenthalte. Andererseits haben die USA das weltweit teuerste Gesundheitssystem und trotzdem ist die Mortalität beispielsweise im Bereich der Herz-Kreislauferkrankungen höher. 


Versicherungsbote:
Der Kostendruck in den Krankenhäusern ist extrem hoch - dennoch fokussiert sich die politische Debatte auf den Fortbestand von privater Krankenversicherung und gesetzlichen Kassen. Die „System-Frage“ im Gesundheitswesen wird zu wenig aus Sicht der Leistungserbringer geführt. 
Frau Dr. Larisch, Sie haben als Stationsärztin gearbeitet, kennen das Gesundheitswesen auch aus Ihrer Tätigkeit für Accenture oder NetDoktor.
Welche Erfahrungen im Zusammenspiel von Versicherern und Leistungserbringern konnten Sie sammeln? Halten Sie eine Bürgerversicherung nach den Vorstellungen von Grünen und SPD für wünschenswert?

Eine Bürgerversicherung würde vorübergehend mehr Geld ins System spülen

Frau Dr. Larisch:
Das deutsche Gesundheitssystem ist sehr fragmentiert. Ambulanter und stationärer Sektor stehen sich gegenüber und sehen sich als Konkurrenten, dazu kommt rund 150 gesetzliche und diverse private Kassen. Einzel- und Kollektivverträge laufen nebeneinander. Leistungserbringer haben keine Übersicht, welche Leistungen der einzelne Patient bekommen hat bzw. welche zusätzlichen Angebote von den einzelnen Krankenkassen gemacht werden. In diesem System haben viele Kollegen auch nicht die Zeit, diesen Informationen hinterher zu recherchieren. Daher kommt es auch immer wieder zu Mehrfachuntersuchungen, die Geld kosten, den Kostendruck erhöhen und zu Recht als unnütz angeprangert werden. Ein Abhilfe ist nicht in Sicht. Eine elektronisch Patientenkarte, die solche Daten speichern könnte, wird von vielen Menschen abgelehnt. Interessanterweise geben viele Menschen in sozialen Portalen wie Facebook deutlich mehr persönliche Informationen preis, die dann überhaupt nicht geschützt sind. Eine Bürgerversicherung würde vorübergehend mehr Geld ins System spülen und damit den Kostendruck für einige Jahre erleichtern. Es ändert aber nichts am Fragmentierungsproblem und den mangelnden Informationen über den zu behandelnden Patienten. Es gibt einige positive Beispiele wie Kaiser Permanente in den USA, die eine kostengünstige und fachlich sehr gute Versorgung der Patienten hinbekommen. Das sollte eher ein Modell sein als die ewige Diskussion um GKV und PKV.


Versicherungsbote:
Der PKV-Ombudsmann soll Streitigkeiten zwischen Privatversicherten und Versicherungen schlichten. Ein Hauptgrund für Beschwerden ist immer wieder die „Medizinische Notwendigkeit“. Warum gibt es bei Leistungserbringern und Versicherern so unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Leistungen erstattungsfähig sind und welche nicht?

Eine unterschiedliche Auffassung von Leistungserbringern und Versicherern ist vermutlich nur eine Ursache der Streitigkeiten. Über Jahre hat die PKV deutlich mehr Leistungen gezahlt als die GKV und ein entsprechendes Image bei seinen Kunden aufgebaut. Durch verschiedene neue Gesetze im Bereich des Gesundheitswesens hat sich der Zugang zur PKV geändert und damit auch die Finanzierungsstruktur. Kurzum auch die PKV muss haushalten. Dazu kommt das Thema Leitlinien bzw. evidenz-basierte Medizin. Es kann durchaus vorkommen, dass ein Arzt mit einer bestimmten Therapie bei seinen Patienten subjektiv gute Erfolge erzielt hat, eine große randomisierte Studie kam aber zu ganz anderen Ergebnissen. Hier stehen persönliche Erfahrung des Leistungserbringers und wissenschaftliche Evidenz im Widerspruch und können zu solchen Streitigkeiten führen. Dazu kommt, dass die medizinische Notwendigkeit im GKV-Bereich allgemein definiert ist, im PKV-Bereich hängt sie vom jeweiligen Vertrag ab.

Auch die PKV muss klar Stellung beziehen

Versicherungsbote:
Wie könnte das geändert werden?

Frau Dr. Larisch:
Medizin ist leider keine exakte Wissenschaft und bisher ist der Einfluss der Psyche auf die Behandlung bzw. Genesung nur wenig untersucht. Untersuchungen haben gezeigt, dass Placebos wirken. Je komplizierter und schmerzhafter eine Placebo-Behandlung ist, desto größer der Erfolg. Somit wird es vermutlich immer eine Diskrepanz zwischen der persönlichen Erfahrung eines Leistungserbringers, in der auch die Person des Arztes oder auch das Ambiente eine Rolle spielen, und großes wissenschaftliche Studien geben. Zusätzlich muss auch die PKV klar Stellung beziehen, dass sie nicht mehr bereit ist, alle Leistungen zu bezahlen.

Betriebliches Gesundheitsmanagement ist sehr umfassend

Versicherungsbote:
Der Messekongress widmet sich mit einem eigenen Forum dem betrieblichen Gesundheitsmanagement. Welche Herausforderungen sehen Sie in diesem Bereich insbesondere für kleinere und mittelständische Unternehmen?

Frau Dr. Larisch:
Das Thema Betriebliches Gesundheitsmanagement ist sehr umfassend. Kleine und mittelständische Unternehmen müssen für eine professionelle Umsetzung übermäßig viele Ressourcen aufbringen. Neben den personellen Kapazitäten sind unternehmerische Personalstrategien zu entwickeln und hierauf basierend weitreichendes Know-How und nachhaltige Steuerungsinstrumente für das betriebliche Gesundheitsmanagement aufzubauen. Im Ergebnis wird in den meisten Klein- und mittelständigen Unternehmen kein zielgerichtetes und nachhaltig wirksames betriebliches Gesundheitsmanagement umgesetzt. Alle derzeitigen Marktlösungen fokussieren ausschließlich auf die Erbringung von einzelnen Gesundheitsleistungen. Dabei werden die besonderen Bedürfnisse von KMU und deren Mitarbeitern sowie die betriebswirtschaftlichen Problemstellungen ausgeblendet. Eine Marktlösung durch ein extern organisiertes, ganzheitliches betriebliches Gesundheitsmanagement, beginnend bei der Analyse bis hin zur Umsetzung, Motivation und Überprüfung der Wirksamkeit, ist den Unternehmen derzeit nicht bekannt und auch noch nicht vertreten.

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Vielen Dank für das Interview!
Die Fragen stellte Michael Fiedler für Versicherungsbote

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