Die Festlegung von Kriterien für eine gerechte Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen ist eine politische Aufgabe mit einer medizinischen, ökonomischen, ethischen und juristischen Dimension. Die Komplexität der Fragestellung macht es allerdings äußerst schwierig, einen Konsens zwischen allen Beteiligten herzustellen. Dennoch ist der Deutsche Ethikrat der Ansicht, dass sich Grundsätze formulieren lassen, an denen sich existierende Strukturen und Prozesse messen lassen müssen.

Der Ethikrat hält es für dringend erforderlich, Priorisierung, Rationalisierung und Rationierung im Gesundheitswesen offen zu thematisieren. Jede Form einer „verdeckten Rationierung“ medizinischer Leistungen sei abzulehnen.
Notwendige Rationierungsentscheidungen dürfe nicht an den einzelnen Arzt oder die einzelne Pflegekraft delegiert werden. Dabei bedeute das Sicheinlassen auf das Problem der Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen keine Festlegung auf eine „Ökonomisierung“ von Entscheidungen.
Eine sachliche Debatte erfordere vielmehr die Einbeziehung medizinischer, ökonomischer, ethischer und juristischer Expertise in ein transparentes Verfahren. Letztlich seien Entscheidungen über den Umfang solidarisch finanzierter Leistungen ethische Entscheidungen, die im gesellschaftlichen Diskurs und auf politischem Wege getroffen werden müssen.

Ausgangspunkt jeglicher Entscheidungen seien das Prinzip der Menschenwürde und die Grundrechte, die einen durch Rechte gesicherten Zugang jedes Bürgers zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung erfordern. Diese Rechte dürften nicht hinter etwaige Erwägungen zur Steigerung des kollektiven Nutzens zurückgestellt werden, heißt es in der Stellungnahme des Ethikrates. Auch dürfe der errechnete oder vermutete sozio-ökonomische „Wert“ von Individuen oder Gruppen nicht Grundlage von Verteilungsentscheidungen sein.

Davon ausgehend formuliert der Deutsche Ethikrat 12 Empfehlungen, die von den Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen bei der Gestaltung von gesetzlichen Regelungen beachtet werden sollten, um eine bestmögliche und gleichzeitig gerechte Verwendung der Mittel für das Gesundheitswesen zu erreichen.

Der verantwortliche Einsatz knapper Ressourcen erfordert es, sie für Maßnahmen einzusetzen, die unter den alltäglichen Versorgungsbedingungen tatsächlich einen Nutzen erbringen. Neben der frühen Nutzenbewertung zur Preisfestlegung muss eine ausführliche Nutzenbewertung unabhängig von Kostenerwägungen vor allem in Bezug auf die patientenrelevanten Endpunkte (Mortalität, Morbidität, Lebensqualität) durch den G-BA und das IQWiG weiterhin jederzeit möglich sein. Für wichtige Indikationsbereiche sollte eine systematische zweite Stufe der Nutzenbewertung nach einem angemessenen Zeitraum regelhaft eingeführt werden, nicht nur für Arzneimittel, sondern auch für nichtmedikamentöse Behandlungsverfahren. Ein Leistungsausschluss wegen fehlenden Nutzens müsse aus Gründen des Patientenschutzes möglich sein.

Der Ethikrat empfiehlt, die Transfer- und die Versorgungsforschung auszubauen, ebenso die vom Hersteller unabhängige Förderung versorgungsnaher klinischer Studien nach Zulassung eines Medikaments oder Medizinprodukts. Dies sei zu verbinden mit einer systematischen Identifikation besonders relevanter Forschungsfragen für die medizinische Versorgung zum Beispiel durch den G-BA. Dazu habe der Gesetzgeber geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen.

Weiterhin sei eine Publikationspflicht für alle Studien anzustreben, unabhängig von ihrem Ergebnis, und nicht nur für die zulassungsrelevanten konfirmatorischen Studien sowie für die klinischen Prüfungen nach Zulassung. Nur so könne der Zugang zu allen für die Nutzenbewertung relevanten Daten gewährleistet werden.

Im Kontext der Kosten-Nutzen-Bewertung medizinischer Leistungen gäbe es aus ethischer und gerechtigkeitstheoretischer Sicht gewichtige Gründe dafür, nicht das Prinzip einer patientengruppen-übergreifenden Nutzenmaximierung zu verfolgen. Deshalb sollte der Gesetzgeber § 35b SGB V (Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses von Arzneimitteln) entsprechend klarstellen.
Aber auch die Kosteneffektivitätsberechnungen nach einem Effizienzgrenzenkonzept können nicht ethisch „neutral“ als Maßstab der Angemessenheit von Erstattungsentscheidungen für Innovationen dienen. Denn die Kosteneffektivität der jeweils nützlichsten etablierten Therapie im jeweiligen Indikationsgebiet, also der Status quo, beruhe auf vielfältigen, zuweilen nicht aufeinander abgestimmten Faktoren. Der Gesetzgeber habe mit dem Hinweis auf die Berücksichtigung der internationalen Standards der Gesundheitsökonomie (§ 35b Abs. 1 S. 5 SGB V) keine ausreichend klaren Vorgaben gemacht, urteilte der Ethikrat in seiner Stellungnahme.

Die Auswirkungen der aktuellen Vorgaben zur Kosten-Nutzen-Bewertung in Deutschland seien zurzeit wegen des rechtlich unveränderten Anspruchs der Versicherten auf Versorgung mit allem medizinisch Notwendigen im Wesentlichen unschädlich. Sie würden derzeit nicht als Instrument zur Verteilung knapper Ressourcen, sondern zur Preisfestsetzung dienen.
Die in Zukunft zu erwartende Notwendigkeit von Rationierungsentscheidungen wird den Gesetzgeber aber zwingen zu klären, in welchem Umfang Leistungsansprüche nach § 27 und § 12 SGB V von einer Kosten-Nutzen-Bewertung beeinflusst werden dürfen und in welchem Verhältnis sich diese zum Kriterium der medizinischen Notwendigkeit verhält.

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