Versicherungsbote: Herr Dr. Schluckebier, Sie waren Präsidialrichter am Bundesgerichtshof und Richter am Bundesverfassungsgericht. Was reizte Sie an der Übernahme des Amts als Versicherungsombudsmann?

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Wilhelm Schluckebier: Nachdem die Frage an mich herangetragen worden war und ich zuvor bei einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung die Einrichtung des Versicherungsombudsmanns und seine Mitarbeiter ein wenig kennengelernt hatte, war schnell die Überzeugung gereift, in dieser Aufgabe nahe an den Alltagsproblemen vieler Menschen etwas zur Streitkultur und zu einer unkomplizierten Konfliktlösung beitragen zu können. Und für den ehemaligen Justizjuristen war die Vorstellung attraktiv, das unbürokratische, effektive und schnelle, privat organisierte Streitbeilegungsverfahren mitgestalten und -erfahren zu können. Also, wenn Sie so wollen, den Unterschied zum – notwendigerweise – schwerfälligeren justizförmigen Verfahren bei Gericht zu erleben, in dem man jedenfalls in den oberen Instanzen und beim Bundesverfassungsgericht doch oft etwas weiter entfernt ist von den Folgewirkungen der Entscheidungen und den Betroffenen. Die Zusammenarbeit mit hochmotivierten und besonders qualifizierten Mitarbeitern sowie die generelle Aufgabe, in Unabhängigkeit beschwerdeführenden Verbrauchern einen Weg zur Lösung eines Konflikts mit ihrem Versicherer aufzuzeigen, ihnen Zusammenhänge verständlich zu erklären, das ist eine interessante Herausforderung. Gelingt das, stimmt das auch ein wenig zufrieden.

Inwieweit hat sich durch Corona Ihr Arbeitsalltag verändert?

Seit mehr als einem Jahr sind unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weit überwiegend im Homeoffice tätig. Der Austausch und die Besprechungen fanden vermehrt telefonisch oder per Videokonferenz statt. Die rechtzeitige Umstellung unserer Vorgangsbearbeitung auf die elektronische Akte zu Beginn des vorigen Jahres hat uns hier zeitgerecht ideale Bedingungen für die Bewältigung der Pandemierestriktionen beschert.

Wilhelm Schluckebier ist seit April 2019 Ombudsmann für Versicherungen.@Klaus Lorenz

Aber durch die stark reduzierten beiläufigen persönlichen Kontakte im Büro kam andererseits der sonst kaum merkliche Erkenntnisgewinn aus Gesprächen für die Alltagsarbeit etwas zu kurz. Das machte sich erst über eine längere Zeitstrecke hin bemerkbar. Seit einigen Tagen haben wir für alle wieder zwei Präsenztage pro Woche vorgesehen. Das erleichtert eben doch im Ablauf vieles und fördert den Informationsaustausch, aber auch das „Wir-Gefühl“ der Mitarbeiter.

Die Debatte um verweigerte Zahlungen aus der Betriebsschließungsversicherung findet sich nicht in Ihrem Tätigkeitsbericht, weil sich die Schlichtungsstelle an Verbraucher richtet. Gibt es aber Bereiche, in denen Corona zu einer Zunahme an Beschwerden geführt hat?

In der Reiseversicherung etwa haben die Beschwerdezahlen im Jahr 2020 um etwa 80 Prozent zugenommen. Die Themen waren recht unterschiedlich. Mittlerweile hat sich aber auch das wieder normalisiert. In den anderen Sparten hat es keinen nennenswerten pandemiebedingten Anstieg der Beschwerdezahlen gegeben. In der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung ist lediglich das Phänomen aufgefallen, dass die vereinbarte Jahresfahrleistung in einigen Fällen drastisch überschritten worden war, weil die Beschwerdeführer von der Nutzung der Bahn aus Gründen der Infektionsprävention auf das Auto umgestiegen waren, und zwar auch auf der Fernstrecke. Beitragsnachzahlungen und in Einzelfällen sogar die für solche Fälle vereinbarten Vertragsstrafen führten zu Beschwerden.

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Nirgends gibt es so viele zulässige Beschwerden wie in der Rechtsschutzversicherung - 26,2 Prozent des gesamten Beschwerdeaufkommens werden von dieser Sparte verursacht. Wo sehen Sie Gründe für diese Häufung?

Eine der Ursachen dürfte in der gesellschaftlichen Entwicklung gründen. Immer mehr Menschen sind rechtsschutzversichert, weil sie sich für den Fall einer rechtlichen Auseinandersetzung wappnen und die Möglichkeiten der in Betracht kommenden Rechtsbehelfe offenhalten wollen. Auf verschiedenen Ausgangsrechtsgebieten haben wir es mit noch ungeklärten Rechtsfragen zu tun, die viele Menschen betreffen. Werden diese von den Gerichten entschieden, ergeben sich oft Folgefragen, deren Beantwortung wiederum umstritten ist. Denken Sie nur an die Dieselaffäre und das sogenannte ewige Widerrufsrecht in der Lebensversicherung.

Bei offener Rechtslage haben wir meist Schlichtungsvorschläge unterbreitet

Der VW-Diesel-Skandal ist schon jetzt das teuerste Schadenereignis in der Rechtsschutzversicherung:Anwalts-, Gerichts- und Gutachterkosten beliefen sich bis Mai 2021 bereits auf eine Milliarde Euro. Und ein Ende scheint nicht in Sicht. Sie schreiben: In den Fällen der vom Rechtsschutzversicherer versagten Deckung gäbe es nach dem BGH-Urteil (Mai 2020) „eine Fülle komplizierter und zumindest zeitweise umstrittener Fragen“. Können Sie diese umstrittenen Fragen kurz erläutern?

Dabei ging es zunächst darum, wann die Verjährungsfrist für Schadenersatzansprüche in Lauf gesetzt wurde, ab wann die Betroffenen also alle Umstände kannten, um ihre Ansprüche geltend machen zu können. Ob sie etwa wegen der komplexen Tatsachen- und Rechtslage und der Frage der Verantwortlichkeit des Herstellers und seiner Organe erst noch obergerichtliche Entscheidungen zur Frage einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung abwarten durften. Es stellte sich später schließlich die Frage, welche Anforderungen bei verjährten Schadensersatzansprüchen an die Darlegung und Berechnung von erst nach zehn Jahren verjährenden Ansprüchen auf die Abschöpfung des Gewinns aus unerlaubter Handlung zu stellen sind. Ein weiteres Beispiel: Ob eine Rechtsschutzdeckung für ein Schadenersatzbegehren schon dann zugesagt werden muss, wenn das Betroffensein des eigenen Fahrzeugs von manipulierter Abgastechnik noch nicht näher, über Pressemeldungen hinaus, konkretisiert werden konnte.

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Welche Funktion kommt Ihnen bei einer solch undeutlichen Rechtslage zu?

Solange diese Fragen noch nicht durch eine weitgehend einheitliche und gefestigte oder höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt waren, haben wir in den meisten Fällen Schlichtungsvorschläge unterbreitet. Diese beinhalteten die Übernahme der Kosten der rechtlichen Interessenwahrnehmung zu einer bestimmten Quote. Dem lag eine Einschätzung der Prozessrisiken bei einer etwaigen Deckungsklage zugrunde. Aber mittlerweile sind aus dem Dieselaffären-Komplex viele solcher Fragen geklärt.

Ihr Vorgänger kritisierte am deutschen Musterfeststellungsverfahren, dass der Einzelne selbst dann keinen automatischen Anspruch auf Schadenersatz hat, wenn der klagende Verbraucherverband das Verfahren gewinnt. Haben sich die Befürchtungen bestätigt?

Natürlich muss der einzelne betroffene Verbraucher, der sich ins Klageregister hat eintragen lassen, seinen Anspruch dann der Höhe nach noch individuell geltend machen. Hier steckt weiteres Streitpotenzial. Nach meiner Einschätzung ist die Abwicklung in den VW-Fällen allerdings relativ problemlos verlaufen. Die Parteien des Musterfeststellungsverfahrens hatten dort auch hierzu ein spezielles Schlichtungsverfahren vereinbart, an dem auch mein Vorgänger als Ombudsmann, Professor Günter Hirsch, beteiligt war.

Haben Sie Vorschläge, wie man Verbrauchern bei Ereignissen wie dem VW-Abgasskandal die Durchsetzung der Ansprüche erleichtern könnte?

Hier bleibt der Vorschlag auf dem Tisch, den mein Vorgänger ins Spiel gebracht hat: Nach dem gerichtlichen Musterfeststellungsverfahren zum Anspruchsgrund eine Schlichtung zur Anspruchshöhe vorzusehen. Das betroffene Unternehmen muss dazu allerdings bereit sein. Ob eine verpflichtende Teilnahme dem Unternehmen gesetzlich vorgeschrieben werden sollte, ist nach wie vor in der Diskussion.

Ab wann ist eine Beschwerde der Versicherungsnehmer aus Ihrer Sicht erfolglos?

Der klassische Fall ist der, dass die Bewertung durch den Versicherer nicht zu beanstanden ist, aber die Gründe bis dahin nicht besonders einsichtig erläutert worden sind. Das können wir dann laienverständlich und mit der Überzeugungskraft der unabhängigen Prüfung nachholen.

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Hinweis: Das Interview mit Wilhelm Schluckebier erschien zuerst in der neuen Print-Ausgabe 2/2021 unseres Fachmagazins. Das Magazin ist kostenlos und kann auf unserer Webseite abonniert werden.

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