In Baden-Württemberg teilen Lehrer zu Schuljahresbeginn Zusatzversicherungen an Schüler aus. Auftraggeber ist das Kultusministerium, das derzeit von der CDU-Politikerin Susanne Eisenmann geführt wird. Alle 1,5 Millionen Schüler bekämen eine solche Police ausgehändigt, berichtet „Spiegel Online“ - verbunden mit der Bitte, dass die Eltern die Verträge unterschreiben und inklusive der fälligen Rate wieder abgeben.

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Teuer sind die Policen mit Namen „Versicherungsausweis für Schüler-Versicherungen“ nicht. Es handelt sich um eine Mischung aus Haftpflicht-, Unfall- und Sachschadenversicherung, der Grundschutz kostet einen Euro pro Schuljahr. Darüber hinaus können die Eltern zusätzliche Bausteine einschließen, zum Beispiel eine Versicherung für die Garderobe (ein Euro pro Jahr), das Fahrrad (sechs Euro), und Musikinstrumente (sechs Euro). Produktgeber sind die Badischen Versicherungen (BGV) sowie Württembergischen Gemeindeversicherungen (WGV), zwei öffentliche Versicherer.

Niedrige Versicherungssummen – unnützer Schutz?

Zweifel sind angebracht, welchen Nutzen die Versicherungen überhaupt haben. Beispiel Unfallschutz: In der Schule und auf dem Weg dorthin sind die Schüler über die gesetzliche Unfallversicherung abgesichert. Und tatsächlich zahlt die Schüler-Zusatzversicherung nicht, wenn die Unfallkasse bereits eine Leistung erbringt. In den Vertragsbedingungen, die dem Versicherungsboten vorliegen, heißt es hierzu: „ Nicht versichert sind Unfälle, für die gesetzlicher Unfallversicherungsschutz besteht.“ Auch der Haftpflicht-Schutz könnte für viele Eltern doppelt gemoppelt sein: Viele private Haftpflichtversicherungen schließen auch Kinder in ihrer Schulzeit mit ein.

Zwar werben die Badischen Versicherungen auf ihrer Webseite damit, dass sich mit der privaten Zusatzversicherung „Sicherheitslücken, die in der gesetzlichen Versicherung bestehen“, schließen lassen. So zahle der Versicherer etwa auch, wenn die Erwerbsminderung dauerhaft weniger als 20 Prozent betrage: in diesem Fall würde der gesetzliche Schutz nicht greifen. Doch die vereinbarte Grundsumme bei Invalidität ist mit 50.000 Euro sehr gering – hier muss bedacht werden, dass eine niedrige Invalidität diese Summe deutlich mindert. Bei Vollinvalidität sind mit vereinbarter Progression maximal 112.500 Euro drin. Zusätzlich zahlt der Versicherer immerhin 5.000 Euro, wenn der Schüler bei einem Unfall stirbt.

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Auch andere Teilleistungen der Schülerversicherung sind sehr limitiert, wie ein Blick in die Vertragsbedingungen zeigt. Beispiel Sachschäden: Wird eine Brille beschädigt, ein Kleidungsstück oder eine Zahnprothese, leistet die Versicherung maximal 300 Euro. Der volle Anschaffungswert des beschädigten Gegenstandes wird nur bis zu einem Jahr ab Neukauf erbracht: danach mindert sich die Summe auf höchstens 60 Prozent des Neupreises. Bargeld, Schlüssel und Wertsachen sind vom Versicherungsschutz ganz ausgeschlossen. Elektronische Geräte wie Smartphones und Laptops werden nur dann ersetzt, wenn sie ausdrücklich für den Unterricht gebraucht werden und auf Anordnung des Lehrers mitgebracht wurden.

Fragwürdige Vertriebspraxis

Überraschenderweise handelt es sich bei dem Vertrieb der Zusatz-Policen nicht um ein neues Phänomen. Bereits seit 1971 werden die Versicherungen über Lehrer in Baden-Württemberg vertrieben, berichtet „Spiegel Online“. Umso überraschender, dass diese Praxis erst jetzt zum Thema wird.

Bedenklich ist dieser Versicherungsvertrieb über die Klassenzimmer in mehrerer Hinsicht. Zum einen könnte die Schule für wirtschaftliche Zwecke missbraucht werden. Entsprechend kritisch äußert sich Peter Breun-Goerk von der Wettbewerbszentrale Bad Homburg: Gegenüber Spiegel Online sagte der Jurist, er finde es „merkwürdig“, dass Versicherungen an Schulen vertrieben werden. Die Schule solle ein geschützter und werbefreier Raum sein. "Bei 1,5 Millionen Schülern und Schülerinnen als potentielle Versicherungsnehmer kann man nicht von Geringfügigkeit sprechen", kommentiert der Wettbewerbshüter.

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Darüber hinaus stellt sich aus Sicht des Versicherungsvertriebs die Frage, ob die Schulen und Lehrer überhaupt berechtigt sind, entsprechende Versicherungen zu vertreiben. Wer sich in Deutschland derart betätigt, muss laut Gesetzgeber eine entsprechende Zulassung und Qualifikation nachweisen. Auch für Tippgebertätigkeiten gibt es strenge Vorschriften. Laut „Spiegel Online“ verteilen die Lehrer die Verträge und kassieren auch die Beiträge. Die Schulverwaltungen überweisen dann das Geld an die öffentlichen Versicherer. Ob Schulen und Lehrer mit an den Verträgen verdienen, konnte nicht geklärt werden.

Screenshot von der Webseite der Badischen Gemeinde-Versicherung: Die Schüler-Zusatzversicherungen werden als "Rundumschutz" beworben, mit denen gesetzliche Lücken geschlossen werden.

Kritik von Verbraucherschützern, wonach die Eltern keine Versicherungsberatung erhalten, weisen die Konzerne laut "Spiegel Online" zurück. Aufgrund der Geringfügigkeit der Police von einem Euro sei eine Beratung gar nicht notwendig, so hätten sich die Versicherer positioniert. Auch das Bundesministerium betone, das "Mitwirken der Lehrer" falle kaum ins Gewicht. Eine fragwürdige These: Werden die Eltern beispielsweise nicht auf Ausschlüsse hingewiesen und das Kind erleidet einen Schaden, der laut Vertrag nicht versichert ist, stellt sich die Frage, wer dafür haftet.

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Dass eine Versicherungsberatung trotz der niedrigen Beiträge angebracht wäre, zeigt auch die Webseite der Badischen Versicherung. Dort wird die Schüler-Police als "Rundumschutz" beworben, die "Versicherungslücken der gesetzlichen Versicherung" schließt. Ein "Rundumschutz" sind die Verträge eben gerade nicht: Sie enthalten gefährliche Absicherungslücken, gerade für den Fall der Invalidität.

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