Deutschland gilt als Aktien-Entwicklungsland. Während in den USA mehr als jeder zweite Sparer in Aktien oder Fonds investiert und in der Schweiz immerhin noch jeder fünfte, partizipieren hierzulande nur etwa 14 Prozent der Bürger (9,01 Millionen) am Aktienmarkt, so rechnet das Deutsche Aktieninstitut (DIA) vor. Lieber stecken die Deutschen ihr Geld in Lebensversicherungen oder legen es gar auf dem Sparbuch an – auch wenn diese in Zeiten des Niedrigzinses immer weniger Geld abwerfen.

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„Es könnte in Deutschland doppelt so viele Aktionäre geben“

Dabei könnte die Zahl der deutschen Aktionäre höher sein, wie nun eine Studie der GFK Marktforschung im Auftrag der Social-Media-Plattform Wikifolio zeigt. Laut der Umfrage ist jeder sechste Bundesbürger (15 Prozent) davon überzeugt, dass sich Aktien auch als langfristige Geldanlage eignen. Kein besonders hoher Wert, der eher von der Skepsis gegenüber den Börsen kündet. Aber: Mehr als jeder zehnte Bürger (12 Prozent) könnte sich vorstellen, mehr in Aktien zu investieren, wenn er mehr Anlegerwissen hätte.

„Die anhaltend niedrigen Zinsen motivieren viele Bürger, ihre Geldanlage zu überdenken“, kommentiert Andreas Kern, Gründer und CEO von Wikifolio. „Unsere Umfrage zeigt, dass es in Deutschland fast doppelt so viele Aktionäre geben könnte“.

Nicht nur fehlendes Finanzwissen ist ein Grund, weshalb Sparer den Aktienmarkt scheuen, auch der Zeitfaktor. Selbst bei den Aktien-Befürwortern sagten 22 Prozent, sie würden mehr in Aktien investieren, wenn sie mehr Zeit hätten. Für die Studie „Money & Web 2016“ wurden rund 2.000 Männer und Frauen ab 14 Jahren repräsentativ befragt.

63 Prozent der Bundesbürger halten Finanzprodukte für zu kompliziert

Auch andere Umfragen bestätigen, dass fehlendes Wissen und Zeitaufwand wichtige Gründe sind, weshalb die Bundesbürger einen Bogen um Aktien machen. Laut der repräsentativen Befragung „Servicemonitor Finanzen“ im Auftrag der NFS Netfonds, durchgeführt im vierten Quartal 2015, verstehen 63 Prozent der Bundesbürger die Finanzprodukte nicht und lassen lieber die Finger davon. 68 Prozent halten sie gar für so kompliziert, dass sie nicht mehr ruhig schlafen könnten, wenn sie sie abschließen würden.

Bei einer persönlichen Anlageberatung ist eine verständliche Darstellung von Finanzentscheidungen daher auch das wichtigste Kriterium aus Sicht der Deutschen. 97 Prozent finden das laut Studie wichtig, 72 Prozent sehr wichtig. Und mehr als jeder Vierte (28 Prozent) würde sogar ein Extrahonorar bezahlen, wenn ein Finanzberater das Wertpapierdepot überwacht und regelmäßig über kritische Entwicklungen und Chancen informiert. Für die Umfrage wurden 1.024 Personen repräsentativ befragt.

Eigenes Schulfach: Wirtschaft und Finanzen?

Das mutmaßlich fehlende Wissen vieler Bundesbürger über Aktien und Fonds nährt die Forderung, das Thema Finanzen schon in der Schule stärker zu berücksichtigen. Lobbyarbeit hierfür betreibt der Bankenverband, der ebenfalls eine Studie bei der GFK Marktforschung beauftragt hat. Das Ergebnis: 81 Prozent der befragten Jugendlichen wünschen sich demnach, dass die Vermittlung wirtschaftlicher Zusammenhänge in der Schule einen höheren Stellenwert bekommt. 73 Prozent sprechen sich sogar für ein eigenes Schulfach "Wirtschaft" aus. Hierfür wurden 651 Personen zwischen 14 und 24 Jahren befragt.

Ein Kritiker dieser Forderung ist der Bielefelder Didaktikprofessor Reinhold Hedtke. "Tatsächlich wissen wir über die relative Relevanz und die relative Lückenhaftigkeit des durchschnittlichen ökonomischen Wissens fast nichts", argumentiert der Soziologe in einem Positionspapier aus dem Jahr 2012. Mit dem gleichen Argument könne man auch ein eigenes Unterrichtsfach Recht, Medizin, Psychologie oder Technik fordern. Zudem sei Finanzbildung schon jetzt teilweise im Lehrplan verankert – etwa in den Fächern Sozialkunde oder Wirtschaft und Recht.

Wollen Lobbygruppen Zugang zum Unterricht missbrauchen?

Hedtke verweist auf eine weitere Herausforderung: Lobbygruppen der Wirtschaft könnten ihren Zugang zu Schulen nutzen, einseitig Arbeitgeberinteressen zu vertreten oder gar die eigenen Produkte im Unterricht zu bewerben. Unterrichtsunterlagen, die bereits im Umlauf sind, würden diese Bedenken bestätigen. So habe der Bankenverband eine 120seitige Broschüre „Fit for Money“ herausgegeben, in denen „die wichtigsten Spar- und Anlageformen“ vermittelt werden sollen – einseitig aus Sicht der Banken, wie Hedtke bemängelt.

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Zugespitzt formuliert: Es droht die Gefahr, dass der Mensch im Wirtschaftsunterricht einseitig als "Homo Oeconomicus" dargestellt wird, wenn die Sicht der Lobbyisten dominiert: Als Wirtschaftsmensch, mit anderen Menschen in Konkurrenz, überwiegend auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Und so tatsächlich dieses Denken den Kindern anerzogen wird, zulasten sozialer Kompetenzen. Zugleich soll wirtschaftliches Handeln nicht verteufelt oder per se als negativ dargestellt werden. Hier einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessengruppen zu schaffen, dürfte eine didaktische Herausforderung sein.

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