Ein Gastkommentar von Reinhard Kreisel, DVAG.

Anzeige

Der Branchendienst „Map-Report“ bescheinigte den deutschen Lebens- und Krankenversicherern am 25.05.2016 eine insgesamt „solide Finanzkraft“. Die Lebensparte sei weiter solide finanziert, doch der Trend zeige „mangels Marktzinsen stetig nach Süden“, wie der Versicherungsbote berichtete. Einige (auch namhafte) Versicherer stünden bei ihren Solvabilitäts-Quoten bereits gefährlich nahe am Minimum von 100 nötigen Punkten.

Der „Map-Report“ bekommt von mir für diese Form der Pressemeldung 0 von 100 Punkten! Nicht wegen des Ergebnisses, denn das stimmt sogar. Aber: Es stimmte noch 2015. Nicht jedoch für das laufende Jahr 2016. Ich will dies nachfolgend begründen und mich dabei auf den Lebensbereich konzentrieren.

Map-Report-Hinweis auf begrenzte Bedeutung von Solvency I fehlte

Reinhard Kreisel, Vermögensberater der DVAG. Mit Solvency II tritt europaweit ein einheitliches Mess-System in Kraft, welches viele Schwachstellen des alten Bewertungssystems Solvency I korrigiert und eine risikogerechtere Bewertung vornimmt. Extreme Verwerfungen an den Anleihe- und Aktienmärkten sollen ebenso verkraftet werden können, genauso wie auch Stress-Szenarien überlebt werden müssen, welche statistisch gesehen nur einmal in 200 Jahren eintreten.

Das Finanzstärkerating für die Lebensversicherer und für das Geschäftsjahr 2015 geschah zum letzten Mal nach den alten und inzwischen bereits überholten Solvency-I-Regeln. In der ersten Pressemeldung des „Map-Reports“ Ende Mai fehlte ein solcher Hinweis hierzu gänzlich. Die Meldung machte sehr schnell die Runde und mancher Versicherer „wackelte“ nun also, und einige Unternehmen davon ganz besonders.

Später ergänzte der „Map-Report“ in einer ausführlicheren Pressemeldung einen Hinweis zu den „neuen Spielregeln“ nach Solvency II, gültig ab Januar 2016, „wodurch die tatsächlich vorhandenen Risiken besser abgebildet werden.“ Leider folgte aber kein weiterer Hinweis darauf, was für die Versicherer durch Solvency II wirklich anders werden wird. Natürlich auch kein Hinweis, dass die Ergebnisse zwischen den beiden Finanzstärkeratings nach Solvency I und II teilweise überhaupt nicht mehr miteinander vergleichbar sein werden und somit wohl kaum unterschiedlicher ausfallen könnten. Das „Versicherungsjournal“ weiß so für seinen Map-Report Nr. 884 gekonnt Publicity zu machen, um diesen Report für 77 € verkaufen zu können. Aber eigentlich ist dieser Report nun wertlos.

Solvency I versus Solvency II

Solvency I bewertete die aktuellen Verpflichtungen der Versicherer nach Handelsgesetzbuch (HGB), also mit einem „Blick zurück“ in die Vergangenheit. Solvency II bewertet zukünftige Verpflichtungen der Unternehmen nach Risiken, mit „Blick nach vorn“. Außerdem wurden unter Solvency I die Fondsprodukte nicht sachgerecht bewertet, weil selbst für Fondsbestände zusätzliche bisher unnötig hohe Eigenkapitalanforderungen galten. Diese Fehlbewertung wird durch Solvency II korrigiert.

Bisher wurden vor allem solche Versicherer unfair bewertet, die viele fondsgebundene Verträge im Bestand haben. Insbesondere bei der Aachen Münchener als Marktführer bei Fondspolicen, schlug die bisherige Fehlbewertung bei Solvency I am stärksten durch. Aufgrund der Bilanzanalysen aller Lebensversicherer Stand Ende 2014 ist die AM-Leben sowohl im Bestand nach Anzahl Verträgen als auch im Neugeschäft nach laufenden Beiträgen mit jeweils über 21 Prozent Quote absoluter Marktführer.

Bei allen bisher bereits durchgeführten Probeberechnungen durch die Aufsichtsbehörden nach Solvency II schneidet die AM-Leben eineinhalb bis zweimal besser ab als der Marktdurchschnitt. Dies wird so entsprechend auch für andere Versicherer gelten, die ebenfalls stark mit Fondspolicen im Markt aufgestellt sind. Manches Unternehmen, welches im aktuellen Rating von Map-Report noch auf hinteren Rängen rangiert, wird im Solvabilitäts-Ranking womöglich bald vorne mitmischen können.

2016: Neue Ära für Lebensversicherer durch Solvency II

Solvency I bewertet bisher nach rein bilanziellen Größen (HGB-Bilanzierung) und berücksichtigt die aktuellen Ansprüche der Versicherungsnehmer nach dem Zinsniveau der vergangenen Jahre. Eines der ganz wesentlichen Mankos der aktuellen Berechnung ist die Solvabilitäts-Spanne (die ist jedoch keine Spanne, sondern ein fester Betrag) und der daraus resultierenden Quote aus der Ist- und Soll-Solvabilität: Nämlich die möglichen Risiken aus dem Bestand! Die Versicherer mit ausschließlich oder sehr hohem Anteil an garantieverzinsten Verträgen werden nun Federn lassen müssen, etwa weil die Risiken aufgrund der Niedrigzinsen bisher nicht bewertet wurden.

Solvency II führt nun die Marktwert-Bilanzierung ein für zukünftige Verpflichtungen, nach dem Prinzip „Blick nach vorn“. Damit die zugesagten Verpflichtungen für die zukünftigen Ansprüche der Kunden auch im Niedrigzinsumfeld auf Dauer erfüllt werden können, wird deshalb mehr Eigenkapital der Versicherer notwendig.

Die Auswirkungen durch die Niedrigzinsen blieben unter Solvency I bisher also völlig außen vor. Das Erwirtschaften des Rechnungszinses wurde hier nie in Frage gestellt und selbst aufgrund jahrelang fallender Marktzinsen wurden deswegen lange Zeit keine höheren Anforderungen an die Versicherer gestellt. Durch Solvency II sind die Eigenkapitalanforderungen nun deutlich höher und strenger. Auch deshalb, weil nun alle Risiken der Unternehmen mit Eigenkapital unterlegt werden müssen.

Hohe Zinszusatzreserve benachteiligte Versicherer trotz höherer Sicherheiten

Unter Solvency I führten die niedrigen Marktzinsen aufgrund der HGB-Bilanzierung sogar zu zusätzlichen stillen Reserven. Solvency II bewertet die Rückstellungen zu aktuellen Marktzinsen. Diese neue Marktwert-Bilanzierung führt deshalb zu Unterdeckungen: Die Versicherer müssen, um die Garantieversprechen auch bei anhaltend niedrigen Zinsen dauerhaft erfüllen zu können, noch mehr Eigenkapital bilden. Dieses Kapital fehlt wiederum an anderer Stelle, um damit Kapitalerträge erwirtschaften zu können.

Deshalb nun verstärkt in Aktien zu investieren, ist für die Versicherer keine Lösung, weil nach Solvency II ein solches Aktien-Investment mit mindestens 35 Prozent Eigenkapital hinterlegt werden müsste.

Eine Art Vorläufer für diese höheren Kapital-Anforderungen war bereits die Zinszusatzreserve (ZZR). Diese Zusatzreserve wirkt sich in paradoxer Weise negativ auf die Solvabilität eines Versicherers aus. Obwohl eine zusätzliche Rückstellung und somit ein Sicherheitspuffer, reduziert die ZZR die Solvabilitätsquote. Schon deshalb kann es nicht richtig sein, die Finanzstärke eines Unternehmens alleine nach der Solvabilitätsquote zu messen. So kann es passieren, dass Versicherer, welche in den letzten Jahren höhere Rückstellungen in die ZZR zugeführt hatten als andere, dadurch eine schlechtere Solva aufweisen, obwohl sie sich mit der Zusatzreserve eigentlich zukunftssicherer aufstellten.

Ein weiterer Schwachpunkt von Solvency I war: Versicherer, die vorsichtiger kalkulierten und höhere Risikoprämien verlangten, hatten durch den sogenannten Beitragsindex einen höheren Solvabilitätsbedarf und im Umkehrschluss dadurch eine geringere Solva-Quote!

Neue Berichts- und Transparenzpflichten

Die Berechnung der Solvabilitäts-Spanne und der Nachweis der Eigenmittel mussten bisher einmal jährlich zusammen mit dem Jahresabschluss bei der Finanzaufsicht BaFin eingereicht werden und bei Gefahr einer Unterdeckung der 100-Prozent-Solvaquote galt eine sofortige Meldepflicht an die BaFin. Informationen für die Öffentlichkeit waren bisher freiwillig. Nach den neuen Solvency-II-Regeln müssen die Versicherer die BaFin nun vierteljährlich und jährlich über die wichtigsten Kennzahlen und über Entwicklungen informieren.

Durch neue Transparenzpflichten werden erstmals umfangreiche Informationen durch den „Solvency and Financial Condition Report“ (SFCR), den „Bericht über Solvabilität und Finanzlage“, nun auch einmal jährlich für die Öffentlichkeit zugänglich sein. „Schweiger“ unter den Versicherern wie bisher wird es also nicht mehr geben.

Verabschiedung und Inkrafttreten von Solvency II

Die Solvency II-Richtlinie wurde Ende 2009 verabschiedet und hätte bereits zum Anfang 2013 in Kraft treten sollen. 2012 gab es die erste und 2013 dann die zweite Terminverschiebung auf den nun gültigen Termin (seit) 01.01.2016. Ein wichtiger Grund für die Verschiebung war der massive Zinsverfall seit dem Jahr 2008. Spätestens jetzt wurde überaus deutlich, dass die alte Bewertung nach Solvency I in Zeiten der Niedrigzinsen nicht mehr zeitgemäß war. Deshalb wurde auch die ZZR erforderlich, sozusagen als Reparaturfall.

Wegen der Niedrigzinsen werden ab sofort deutlich höhere Rückstellungen für die bestehenden Verpflichtungen notwendig. Damit die Versicherer die benötigten Eigenmittel für den Bestand nun sukzessive aufbauen können, haben sie einen Übergangszeitraum von bis zu 16 Jahren erhalten. In dieser Zeit müssen die Solvency II Anforderungen erfüllt werden. Für das Neugeschäft gilt die Übergangsfrist nicht, hierfür gelten die neuen Anforderungen bereits seit diesem Jahr.

Neue Zeitrechnung

Für die Versicherungen hat somit zum 1. Januar 2016 eine völlig neue Zeitrechnung begonnen. In der Übergangsphase zu Solvency II gab es seit 2011 bereits schon einige Überraschungen. Bei klassischen Tarifen wurden durch die andauernden Niedrigzinsen kaum mehr Zinseszinseffekte möglich, selbst der Erhalt der Kundenbeiträge fällt den Versicherern schwer und die Garantien im Bestand binden viel Kapital. Im Neugeschäft mit seinem Kunden muss der Versicherer künftig verstärkt darauf achten, sich keine zusätzlichen Eigenkapitalrisiken einzuhandeln.

Anzeige

Der Lebensversicherungs-Markt war noch niemals so stark in Bewegung wie in diesem Jahr. Der Beratungsbedarf für die Bevölkerung war noch nie so groß wie heute. Noch mehr als bisher wird für den Bürger eine qualifizierte Beratung wichtig sein. Jeder Berater, der dies erkennt, seinen Kunden mit Sachverstand zur Seite steht und diesen bedarfsgerecht und zielorientiert hilft, wird eine großartige Zukunft vor sich haben! Und beachte: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht eben mit der Zeit!

Anzeige