Pauschalurteil oder berechtigte Kritik? Wolfgang Schuldzinski, neuer Chef der einflussreichen Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, hat in einem Handelsblatt-Interview die Versicherungsbranche scharf angegriffen. So seien die Bundesbürger spätestens seit den Reformen der Regierung Gerhard Schröders zu mehr Privatvorsorge angehalten – Aber die Versicherungen könnten die entstandene Lücke nicht schließen.

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“Versicherungen und Vertriebe agieren mangelhaft“

Ein besonderes Augenmerk richtet Schuldzinski auf die Absicherung der Berufsunfähigkeit. „Versicherer und Vertriebe agieren mangelhaft auf diesem Markt“, erklärt der Jurist. „Jeder Verbraucher muss sich selbstständig um seinen Schutz bemühen, seitdem sich der Staat weitestgehend aus dem Invaliditätsschutz zurückgezogen hat. Den Versicherten fehlt aber in der Regel das Know-how hierzu. Und die Verbraucher stehen einem rücksichtslosen Vermittlermarkt gegenüber.“

So weist Schuldzinski auch das Argument zurück, die Vertriebe der Versicherer seien gut geschult und würden fair beraten. Eine Stichprobe der Verbraucherzentrale unter 326 Verträgen habe ergeben, dass bei jeder fünften Police die Berufsunfähigkeitsrente nicht mal den Hartz-IV-Satz zur Sicherung des Existenzminimums absichert. „Solche Policen sind für die Versicherten oft Geldverschwendung“, weil sie im Leistungsfall mit der Grundsicherung verrechnet werden. Ob die betroffenen Verbraucher jedoch überhaupt eine Beratung in Anspruch genommen haben oder selbst den Vertag abschlossen, etwa über ein Vergleichsportal, dazu macht Schuldzinski keine Angabe.

Weitere Kritikpunkte des Verbraucherfunktionärs: Die BU-Verträge seien voller undurchsichtiger Klauseln und die Antragsfragen undurchsichtig. „Im Leistungsfall wird den Versicherten dann vorgeworfen, unehrlich zu sein, etwa wenn sie eine gefährliche Sportart nicht angegeben haben.“ Hier lautet der Vorwurf, die Anbieter gestalten ihre Policen bewusst intransparent, um im Leistungsfall eine Auszahlung der BU-Rente zu verweigern. Auch wenn er seine Kritik nicht auf alle Versicherungen und Vertriebe anwenden will, lautet Schuldzinskis Fazit: „Das System funktioniert so nicht!“

Verbraucherzentrale will Druck auf Politik ausüben

Weil das Risiko einer Berufsunfähigkeit große Teile der Bevölkerung betrifft, will sich die Verbraucherzentrale NRW für eine politische Lösung stark machen. Und das bedeutet, BU-Versicherer könnten sich auf schärfere gesetzliche Regelungen einstellen müssen. "Wir werden politischen Druck ausüben, um die Systemfehler zu beheben", so die klare Ansage.

„Das Risiko muss vernünftig abgesichert werden, und dazu muss jeder eine Chance haben. Die privaten Versicherer sind dazu offenkundig nicht in der Lage“, polemisiert Schuldzinski. Er fordert unter anderem Mindestversicherungsgrenzen, damit die BU-Rente nicht unter das Sozialhilfe-Niveau absinken kann. Auch dass Versicherungsnehmer aufgrund von Vorerkrankungen oft keinen Schutz erhalten, ärgert den Juristen. Denkbar wäre hier ein Kontrahierungszwang in bestimmten Tarifen – ähnlich den Pflegebahr-Policen.

Rosinenpickerei, aber kein Ablehnungsmanagement

Mit seiner Kritik spricht Schuldzinski einen wunden Punkt des BU-Marktes an: Auch viele Vermittler klagen, dass sie für ihre Klienten keinen bezahlbaren Schutz finden. Gerade für Risikoberufe wie Dachdecker oder Krankenpfleger sind die Prämien oft unerschwinglich, viele erhalten gar keinen Vertrag. Dabei sind es keineswegs nur ernste Vorerkrankungen, die zur Ablehnung eines Antrages führen. Schon bei geringsten Anzeichen für psychische Probleme verweigern viele Versicherer einen BU-Vertrag, darunter so „alltägliche“ Sachen wie Flugangst, wie eine Studie von Öko-Test ergab. Auch wer ein Hobby wie Reiten hat oder unter Heuschnupfen leidet, muss mit saftigen Risikoaufschlägen oder sogar einer Ablehnung rechnen. Hingegen werden risikoarme Berufe gern versichert.

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Die Versicherungsbranche verweist darauf, dass BU-Versicherer keineswegs Nein-Sager sind. Allein 2012 zahlten die Versicherungen mehr als 250.000 Renten mit einem Volumen von 1,7 Milliarden Euro aus, berichtet der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Laut einer Analyse von Franke & Bornberg werden ca. 70 Prozent aller BU-Anträge positiv entschieden. „Bei vielen Fällen, in denen es nicht zur Anerkennung kommt, handelt es sich nicht um Ablehnungen. Vielmehr wurden vorsorglich gemachte Leistungsanmeldungen durch die Kunden selbst nicht weiter verfolgt“, erklärt Michael Franke, geschäftsführender Gesellschafter von Franke & Bornberg. Ein strategisches Ablehnungsmanagement der Versicherer sei hingegen nicht zu erkennen.

Handelsblatt / Versicherungsbote

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