Gemäß der europäischen Eigenkapitalrichtlinie Solvency II muss die EIOPA so genannte risikolose Zinsen (Staatsanleihen mit AAA-Bonität) vorgeben. Für Versicherer im Euro-Währungsraum liegt der Diskont bei 30 Jahren Laufzeit bei 1,86 Prozent. Das bedeutet im einem Zahlenbeispiel: Wenn ein Versicherer in 30 Jahren einen garantierten Betrag von 100 Millionen Euro auszahlen muss, entspräche dies bei 1,86 Prozent Diskontzins einem Gegenwartswert von 57,5 Millionen. Dieser Wert ist zwar nicht die direkte Eigenkapitalvorgabe, aber wichtiger Basis-Rechenwert der Formel zum berechnen der Kapitalkraft.

EZB rechnet strenger

Die EIOPA-Vorgabe 1,86 Prozent ist allerdings erheblich höher als der risikolose Zins der Europäischen Zentralbank: Die EZB rechnet nur mit 1,48%. Das obige Beispiel neu berechnet, entspräche dies für 100 Millionen Euro Garantie und 30 Jahren Laufzeit einem Gegenwartswert von heute rund 64,3 Millionen. Das Beispiel zeigt: Obwohl EIOPA und EZB mit denselben Kriterien rechnen (30 Jahre, AAA-Anleihen), rechnen sich die Versicherer um 6,8 Millionen „reicher“, weil sie es laut EU-Aufsicht dürfen.

Der Unterschied beider Rechenergebnisse macht also 6,8 Prozent aus. Diese sind allerdings mit den vielen Milliarden der Versicherer-Rückstellungen zu multiplizieren. Bei 10 Milliarden Lasten wären das gleich 680 Millionen Euro.

„Finanzskandal“

Durch einen überhöhten Zinssatz müssen die Versicherer weniger Geld für zukünftige Versicherungsleistungen zurücklegen, als sie voraussichtlich benötigen werden. Sven Giegold, Grüner Schattenberichterstatter zu Solvency II und Finanzexperte im Europaparlament, hat die neuen Zinsvorgaben der EU-Aufsicht kommentiert; auch deren kurzfristige Bekanntgabe:

„Übers Wochenende wird mit der Lebensversicherung vieler Europäer gezockt. Der Europäische Versicherungsaufseher gefährdet die Sicherheit von Lebensversicherungen und verschleiert Finanzprobleme von Versicherungsunternehmen. Damit tritt die Aufsichtsbehörde ihre Verantwortung für den Schutz von Versicherten mit Füßen. Wir haben es hier mit einem handfesten Finanzskandal innerhalb der Europäischen Versicherungsaufsicht zu tun.“

Langfristig 4,2 Prozent?

Finanzmathematisch ist die Zinsmaterie um Solvency II noch weitaus komplizierter. Tiefergehendes würde hier zu weit führen. Aber eine Feststellung des Grünen Giegold kann jeder Zeitungleser nachvollziehen: „Ein langfristig risikoloser Zins von 4,2% ist realitätsfern“. Genau mit dieser Zinsannahme als langfristige Rechengröße, der „Ultimate Forward Rate“ arbeitet die EIOPA. „Diese Annahme der Aufsichtsbehörde entbehrt angesichts der niedrigen Marktzinsen jeglicher Grundlage“, ergänzt Giegold.

Weitere Stellschrauben

Auch sei der Veröffentlichungstermin an einem Samstagnachmittag ohne Vorankündigung „abenteuerlich“. Damit sollen „offensichtlich eine Reaktion an den Börsen sowie eine breite Medienberichterstattung verhindert werden“.

Ferner bemängelt Giegold „bedenklichen Auswirkungen der kontroversen Long term guarantee measures“, also bei langfristigen Prognosen der Versicherer. Hier dürfen die Unternehmen an weiteren Schrauben drehen und auf die Diskontzinsen ein sogenanntes Volatility adjustment von 0,17 Prozent aufschlagen. Und sich damit laut Giegold „noch weiter von der ökonomischen Realität entfernen“.

http://www.sven-giegold.de/2015/finanzskandal-uebers-wochenende-aufsichtsbehoerde-zockt-mit-lebensversicherung-vieler-europaeer/