Es ist paradox: die schwarz-rote Bundesregierung will ab 2017 einen gesetzlichen Mindestlohn einführen, um damit niedrige Löhne zu verhindern, von denen Beschäftigte nicht leben können. Nun warnt das arbeitgebernahe ifo-Institut aus München davor, dass genau derartige Dumpinglohn-Arbeitsverhältnisse wegfallen könnten. „Die Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro erhöht das Einkommen bedürftiger Arbeitnehmer kaum, gefährdet aber bis zu 900.000 Arbeitsplätze“, heißt es in einer Pressemeldung des Wirtschaftsforschungsinstitutes.

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Aufstocker besonders stark gefährdet

“Besonders stark negativ betroffen sind die heutigen Aufstocker“, sagt ifo-Forschungsprofessor Ronnie Schöb. Beschäftigte also, die ergänzend Hartz IV beziehen, weil der Lohn zum Leben nicht reicht. Diese würden von der Lohnerhöhung kaum etwas mit nach Hause nehmen, seien aber einem hohen Arbeitsplatzrisiko ausgesetzt. „Wenn der Stundenlohn eines alleinstehenden Aufstockers von 5 Euro auf 8,50 Euro steigt, erhöht sich sein Netto-Einkommen nur um 60 Euro im Monat oder 6,1 Prozent. Denn das zusätzliche Einkommen wird weitestgehend mit dem ALG II verrechnet. Für den Arbeitgeber erhöhen sich dann aber die Kosten um 70 Prozent“, argumentieren die Wirtschaftsforscher.

Explizit vorausgesetzt wird in diesem Gedankenmodell, dass Dumpinglöhne von 5 Euro pro Stunde volkswirtschaftlich wünschenswert seien, ebenso wie ihre staatliche „Subventionierung“ durch HartzIV-Leistungen. Getreu dem Motto: ein schlecht bezahlter Arbeitsplatz ist immer noch besser als gar keiner.

Die gesamten Arbeitsplatzverluste könnten sich auf 900.000 summieren, wie aus der gemeinsamen Studie von Ronnie Schöb, dem ifo-Dresden-Geschäftsführer Marcel Thum und des Magdeburger Finanzwissenschaftlers Andreas Knabe hervorgeht. Dabei sei der Verlust von 660.000 geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen (einschließlich Rentner und Studenten) mitgezählt. Zudem seien etwa 340.000 Vollzeitstellen bedroht.

In neuen Ländern drohen die meisten Arbeitsplatzverluste

Bei den Aufstockern arbeiten bisher zwei Drittel zu einem Lohn unterhalb von 8,50 Euro, berichten die Forscher. Potenziell seien in Deutschland rund 5 Millionen Arbeitnehmer von der Einführung des Mindestlohns betroffen, das entspreche 14 Prozent aller Beschäftigten, im Osten sogar 20,4 Prozent. Bei den Vollzeitbeschäftigten greife der Mindestlohn bei rund 1,2 Millionen Arbeitnehmern (5,2 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten). In den neuen Bundesländern müssten wegen der niedrigeren Löhne die größten Jobverluste befürchtet werden.

Vergleiche mit dem Mindestlohn in anderen Ländern nennen die Studienverfasser irreführend. In Großbritannien wurde im Jahre 1999 ein Mindestlohn von 3,60 Pfund eingeführt. „Nur 5 Prozent der Beschäftigten waren damals davon betroffen. Würde man in Deutschland ähnlich vorsichtig starten, dürfte er in Deutschland nicht höher als 6,22 Euro sein“, sagt Marcel Thum, Geschäftsführer von ifo-Dresden. Im Westen entspräche das 6,47 Euro, im Osten 4,62 Euro. Ein Mindestlohn à la USA müsste sogar noch niedriger liegen.

Kontroverse Debatten über Auswirkungen eines Mindestlohns

Die Einführung eines Mindestlohns wird von Wirtschaftsexperten kontrovers diskutiert, wobei die Debatte häufig von weltanschaulichen Annahmen geprägt ist. So kam etwa die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie zu dem Ergebnis, dass keine großen Jobverluste durch eine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro zu befürchten seien.

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Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales evaluierten bereits im Jahr 2011 sechs Wirtschaftsforschungsinstitute die Auswirkungen in jenen Branchen, die bereits einen Mindestlohn eingeführt haben, etwa im Baugewerbe (8 Euro pro Stunde). Hier legen die Ergebnisse nahe, dass Jobverluste weitestgehend ausgeblieben sind. Negative Beschäftigungseffekte wurden jedoch ausgerechnet für Fachkräfte in Ostdeutschland beobachtet.

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