Manchmal braucht es gute Beispiele, um eine abstrakte Debatte auf den Punkt zu bringen. SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte sie am Mittwoch in Leipzig gleich fünffach parat. Um zu beschreiben, wie die derzeitige Situation in Pflegeheimen und Krankenhäusern ist, erzählte er von fünf Begegnungen während seiner Wahlkampftour in den letzten vierzehn Tagen.

Anzeige

Da wäre etwa jene blinde Frau, die in einem Altersheim in Braunschweig untergebracht ist. „Sie erzählte mir, dass sie, seit es keine Zivildienstleistenden mehr gibt, gar nicht mehr aus ihrem Zimmer komme und niemand Zeit habe, mit ihr vor die Tür zu gehen“, so Gabriel. Die Pfleger seien einfach überlastet und hätten keine Zeit. Es sei eine „Freiheitsberaubung im Alter durch Hilfsbedürftigkeit“, habe die Frau geklagt.

125.000 neue Pflegekräfte

Die SPD hat sich ins Parteiprogramm zur Bundestagswahl geschrieben, die Situation der Pflegekräfte zu verbessern. 125.000 neue Stellen will Bundeskanzlerkandidat Peer Steinbrück im Falle eines Wahlsieges schaffen. Um zu verdeutlichen, dass es sich dabei nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt, haben die Sozialdemokraten am Mittwoch zu einer Pflegekonferenz ins Pentahotel Leipzig geladen. Es kamen Gewerkschafter, Pflegekräfte und Wissenschaftler, um sich in Talkrunden und Interviews dem Thema zu widmen.

Für Sigmar Gabriel eine ganz persönliche Angelegenheit. “Ich komme aus einer Familie, in der alle in Pflegeberufen arbeiten, kenne also die Probleme“, beginnt Gabriel seine Rede in Leipzig. Vor fünf Jahren habe er seine Mutter ins Pflegeheim geben müssen. Umso wichtiger sei ihm eine gute Versorgung der Pflegebedürftigen. "Es geht nicht nur um Technik und Arbeitsbedingungen, sondern um Anstand. In beiden Fällen muss die Gesellschaft anständiger werden", forderte Gabriel.

Hohe Belastung und schlechte Bezahlung

Dass im System aber etwas faul sei, zeige sich bereits daran, dass für einen so schwierigen Beruf wie den Pfleger keine Ausbildungsvergütung gezahlt werde. Mitunter müssten die Azubis sogar für ihre dreijährige Ausbildung selbst etwas bezahlen. Hier will die SPD gegensteuern. „Wir brauchen eine Ausbildungsvergütung vom ersten Tag an“, forderte Gabriel. Dafür soll die Kranken- und Altenpflegeausbildung unter das Dach des Berufsbildungsgesetzes kommen.

Anzeige

Schwerer noch wiegen die Probleme im Berufsalltag der Pflegekräfte. Kranken- und Altenpfleger seien „Marathonläufer und Seelsorger zugleich“, berichtete Bettina Mandhaus, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende des Südharz-Klinikums. „Die Zeit am Patienten ist viel zu knapp. Auf manchen Stationen laufen die Kranken- und Altenpfleger zwölf Kilometer am Tag, kümmern sich in Nachtschichten alleine um 30 Patienten.“ In Schweden und Norwegen hingegen betreue ein Pfleger nur acht bis zehn Pflegebedürftige.

Berufsaufgabe bereits nach 7 Jahren

Der hohe Druck in den Pflegeberufen fordert seinen Tribut. „Im Bundesdurchschnitt bleiben Kranken- und Altenpfleger sieben Jahre lang in ihrem Beruf. Danach wechseln sie aufgrund der Belastung in einen anderen Job“, berichtete Martin Wieth, Betriebsratsvorsitzender des Seniorenpflegeheims in Zwickau. Immer mehr Pfleger würden den Beruf vorzeitig aufgeben, „weil man es sich einfach nicht mehr leisten kann, körperlich, psychisch und moralisch.“ Er wünscht sich „bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung für einen tollen, aber auch unglaublich anstrengenden Job.“

In den letzten Jahren aber hätten sich die Arbeitsbedingungen eher verschlechtert statt verbessert. Flächentarife seien zugunsten von Haustarifen gekündigt worden, der Zeitdruck gestiegen. Was dies für das Uniklinikum Leipzig bedeutet, verdeutlichte Sebastian Will, Personalratsvorsitzender des Uniklinikums. Seit 1999 seien 500 Pflegestellen abgebaut worden, obwohl die Arbeit deutlich zugenommen habe. Manche Pflegekräfte erhalten nun bis zu 40 Prozent weniger Lohn. Will beklagte einen "Wettbewerb über Lohndumping", der zu Lasten der Angestellten gehe.

Anzeige

Auch das Abrechnungssystem der Krankenkassen wirke kontraproduktiv, da es Kliniken regelrecht bestraft, wenn sie neue Pflegekräfte einstellen. „Jede zusätzliche Pflegekraft ist ein Kostenfaktor, jeder zusätzliche Arzt ein Profitzentrum“, beschrieb SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, Mitglied im Kompetenzteam von Peer Steinbrück, das vorherrschende Denken in vielen Krankenhäusern. Die fragwürdige Tendenz: Je höher die Gewinne seien, desto schlechter würden die Kliniken in der Qualitätsstatistik abschneiden.

Karl Lauterbach: Soziale Arbeit muss aufgewertet werden!

Bei all der Kritik waren sich die Anwesenden aber einig, dass in Deutschland noch immer gute Pflegearbeit geleistet werde. Nicht wegen, sondern trotz der Rahmenbedingungen. Dass eine bessere Pflege auch mehr Geld kosten wird, daraus machen die Sozialdemokraten kein Geheimnis. Den Beitrag zur Pflegeversicherung will die SPD laut Wahlprogramm um 0,5 Prozentpunkte anheben, um hunderttausende Pfleger neu einzustellen. Zudem sollen bundesweite Personalmindeststandards eingeführt werden. Abteilungen, die nicht genügend Pfleger einstellen, müssen dann mit ihrer Schließung rechnen.

Auch die Bezahlung der Pflegeberufe soll nach dem Willen der SPD steigen. „Der körperliche und psychische Verschleiß in diesem Job ist enorm. Soziale Arbeit muss endlich wieder aufgewertet werden!“, sagt Karl Lauterbach. Eine Forderung, der sich auch seine Parteigenossin Angelika Graf anschließt. In der Autobranche würden zum Beispiel deutlich höhere Tariflöhne gezahlt als in Pflegeberufen. „Ich sehe nicht ein, warum derjenige, der mein Auto repariert, mehr verdient als derjenige, der meine Mutter pflegt“, gibt Graf zu bedenken.

Lohnausgleich für die Betreuung zu Hause

Aber Pflege findet nicht nur in Pflegeheimen statt, sondern mehrheitlich zu Hause. Rund 88 Prozent der Pflegenden sind Frauen, die dafür häufig auf Job und Karriere verzichten müssen, um Eltern oder Großeltern zu betreuen. Hier schlägt die SPD ein Pflegegeld vor, dass pflegende Angehörige ähnlich dem Elterngeld zugesprochen bekommen. Eine Leistung, die nicht finanzierbar ist? Auch in den skandinavischen Ländern und in Belgien bekommen pflegende Angehörige Lohnersatzleistungen bis zu 80 Prozent ausgezahlt, berichtet die frühere Stadtkämmerin Dr. Cornelia Heintze. Ihr Plädoyer: "Der demokratische Wandel erfordert mehr Solidarität."

Anzeige

Doch wird die SPD tatsächlich alle Ideen umsetzen, sollte sie am 22. September wider Erwarten in die Regierungsverantwortung kommen? Herbert Weisbrod-Frey, Fachbereichsleiter Gesundheitspolitik im ver.di-Bundesvorstand, meldete da leise Zweifel an. "Ich bin froh, dass die SPD das Thema Pflege ins Wahlprogramm aufgenommen hat. Aber wir wollen auch, dass es in die Koalitionsverhandlungen kommt und dann umgesetzt wird", mahnte der Gewerkschafter.

Seite 1/2/

Anzeige